ANH
(…) denn ganz dasselbe, zur selben Zeit, geschieht Kofi Balele an der Elfenbeinküste, geschieht dem Hafenarbeiter Mestre Soares am Stadtstrand von Favela/Salvador da Bahia, dem Schneider Aron Steinberg am russischen Strand von Brooklyn, auf Rügen der Floristin Karin Hermann und möglicherweise weiteren Menschen, von denen uns bislang noch keine Nachricht kam. Die vielleicht die Musik, die ganz sicher auch sie niedergeschrieben haben und immer noch weiter niederschreiben, weil sie nicht wissen, daß es sie längst gibt, niemandem zeigen mochten – eine Musik, die vom Leiden singt, die von der Verzweiflung singt und die in ihrer Hand wie einen verwundeten Vogel, den du schützen mußt, die Hoffnung birgt, deren gebrochenen Flügel ihr Klang heilt.
Musik weg. Die U-Bahn-Geräusche bleiben stehen, zwischendurch immer wieder Stationsgeräusche, Gespräche der Passagiere usw.
[Darüber wieder das Gespräch wie zu Fußnote 1 (ff). (In Berlin aus dem Jahrbuch herausschreiben.)]
G e s t e. Und N u l l s i g n a l.
SPRECHER 1
Unschuld, erbarme uns, daß wir’nicht wären, harmvoll die Mutter,
notwüt’ger Vater, den Gürtel um Striemen, wulst’ge, zieht er
speichelnd vor sinnloser Kraft, vor tauber, dem Kind durch der Wange
platzende, spritzende Haut. Erbarm dich, Unschuld, aller
drei: des Jungen, der hundertfach dran krepiert, und der Mutter;
bitter fällt sie dem Mann in den Arm nicht, nur ihre Zähne
kaut sie, die Splitter schluckt sie und stecken fest in der Seele,
eingenarbt ständig, Narbe für Narbe, solch ledigrem Schrumpfding,
fühllos zusammengezogen, weil es nichts hilft. Erbarmen
SPRECHER 2
der, die es aushalten muß. Erbarmen doch auch mit dem Vater,
wo soll er hin mit der Angst und der Wut in der unfreien Enge?
der er nicht weiß, wen er eigentlich prügelt und wem all sein
Haß gilt, daß er sein Eigenstes Nähestes schändet, wenn ihn
grobe Tumbheit nicht und nicht mehr der Schnaps so stummhält,
sondern ihn auffahren läßt im brüllenden Entsetzen
gegen den Kleinen. Unschuld, erbarm dich! Erbarme dich, Vater!
Musik bleibt frei stehen und leitet über in
Im U-Bahn-Rattern zerflattert die Musik.
sehr stark.Unabhängig von der Musik des Leidens bin ich jetzt bei der Lektüre überzeugt, dass ich mir Petterson endlich anhören muss. Ich gestehe, ich kannte ihn nicht.
Doch jetzt halte ich es für absolut notwendig, ihn einmal zu verstehen.
Danke für die Möglichkeit, beim Schaffen zusehen zu können.
“Gab es Hoffnung?”… „Ja“. Hoffnung, dass der Unschuld Narben irgendwann den Vater erbarmen. Diese Hoffnung erfüllte sich nie – aber die Hoffnung der eigenen Musik entstanden, erfüllte sich und heilte die Flügel.