Paul Reichenbachs Mittwoch, der 30.August 2006. Das Geheimnis – ein Brieftraum.

Sehr verehrte gnädige Frau,

ich bin nicht Rilke, der Sie ohne empfindsame Reue mit „Liebe Lou“ anzureden pflegt und damit Grenzen der Scham übersteigt, die wie Schleier unentfalteter Kostbarkeiten auf mir ruhen. Es mag sein, dass Sie, eine leibhaftige Wiedergeburt der Tochter des Herodes, mit Freuden “abgehangenes Fleisch” sehen und fühlen, so wie Sie gern mit spielerischem Leichtsinn Penthesileas Peitsche schwingen. Aber sie sind die Besondere. Das wissen sie und deshalb werden Sie verehrt. Das Wort Begehren, ein Flüstern meines Unverstandes, wage ich nicht auszusprechen. In lautloser Schrift geschrieben steht das Wort, wie ein geschlossener Schrank vor Ihnen, dessen Fülle sich erst beim Öffnen der Türen offenbaren wird. Für >>>>>Joseph Joubert, man kann ihn als einen der geistigen Väter Amiels bezeichnen, war die Scham ein Schutzschild vor überstarken Eindrücken. Und so schützt sie auch mich. Ich weiß, dass heute, in Zeiten eines marktförmig zurechtgeschnitzten Exihibitionismus, diese Haltung antiquiert erscheinen muss. Die verlorene Scham wird durch einen Gewinn an Offenheit ersetzt, der das Geheimnis im Maelstrom der Verluste zersaugt. Ich bin mir fast sicher, dass hinter den Masken emanzipierter Frauen, die mit Recht juristische und ökonomische Waffengleichheit unter den Geschlechtern erzwingen, sich letztlich jene Frauenbilder verbergen, die mich auf den Gedankenweg Amiels schickten.
Sie, gnädige Frau, sind für mich die Ausnahme. Eine Deutung ihrer Person verdanke ich unserem gemeinsamen Freund ANH:
“Salomé heißt in Wirklichkeit anders, als ich sie hier nenne; da ist nicht der Faden eines Nahosts in ihr, sondern alles ist irgendwie spalteneruptiv.” Ein sprudelnder Geysir, das sind Sie. Voll flüssiger Hitze. Ich schaudere bei dem Gedanken, spaltenzentriert die Scham Jouberts und Amiels einmal zu verlieren, und wünsche es doch so sehr.

Ihr sehr ergebener Paul Reichenbach

3 thoughts on “Paul Reichenbachs Mittwoch, der 30.August 2006. Das Geheimnis – ein Brieftraum.

    1. Das Begehren geht den Weg des Erinnerns. Eros findet immer eine (ihre) Adresse, wo er dem Scheuen Schelm sein darf.

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