Dienstag, der 20. Dezember 2005.

6.56 Uhr:
Wieder die Arbeitsstruktur verloren, das DTs von gestern und heute hat etwas Perverses: zwar nennt es sich noch „Den Tag strukturieren“, aber das Strukturierende ist bereits in der Form völlig auseinandergefallen. Ich habe das dennoch so eingestellt, weil ich dokumentieren will: etwas zu dokumentieren als sozusagen eine Art Geländer, an dem man sich immer noch h ä l t.

Ich weiß nicht, ob es wirklich gut beraten von mir für mich selbst war, ******’s und meines Jungen Bild auf meinen Desktop als ständige Vergegenwärtigung zu legen, vielleicht ist es auch diese Zeit und ihr Symbolgehalt, was mich mit solcher grauen Galle füllt; da ich gleichzeitig beides gleichzeitig erstehen lasse wie ich es auszunüchtern versuche. Das widerspricht sich völlig und reißt mich auseinander, ohne daß ich dieses Reißen eigentlich merke, da ich es ja eben a u c h wegdrücke und mich deshalb insgesamt auf, sagen wir, einen inneren Level herunterschraube. Das genau macht sich dann als Depression bemerkbar mit ihren unterdessen bei mir ganz typischen Symptomen: nicht aufstehen, aber auch nicht (rechtzeitig) zu Bett gehen können, ChatAnfälle auf ErotikForen, ausgesprochen forciertes, sexuell ausgerichtetes Baggern bei zugleich furchtbar wachsender Sehnsucht nach ******. Um mich herum verwahrlost die Wohnung dabei,die Finanzsituation tut ein übriges, liegt als Angst unter allem, die ich aber ebenfalls nicht zulasse, jedenfalls nicht an mein Bewußtsein herankommen lasse; es ist gut, daß ich als strukurierendes Element immer noch meine Elisabeth ‚halte’, die mir unterdessen vorkommen will, wie die Haushälterin eines ansonsen im Meer seiner Gedanken und das Hausstaubs ertrinkenden Privatgelehrten. Gerade heute auch wieder wird sie hier sein, für wenigstens die gröbste Ordnung sorgen und mich für diese Zeit vertreiben; ich werde dann Weihnachtseinkäufe machen und versuchen, die Lego-Star-Wars-Kiste zu bekommen, die mein Junge sich so wünscht.
Aus der inneren Traurigkeit heraus noch versucht gestern, mit Prothoe Kontakt zu bekommen und mit Lilith; beide melden sich nicht. Bei Prothoe hab ich sogar eine leichte Sorge, daß ihr etwas passiert sein könne; es ging ihr letzte Woche, bevor ich nach Siegen reiste, nicht gut. Heute abend bin ich bei Julietta und >>>> Sukov auf ein Essen eingeladen; es kann aber sein, daß G. mich braucht, der von morgen bis Weihnachten fortfliegt und dringend ein paar Sachen getippt haben muß. Schon gestern rief ich ihn an, aber er brauchte mich, sagte er, nicht.

Auf mir krabbelt Ratz Felix herum, der Glückliche, wie sein Name, nicht aber sein Schicksal will: in meiner Gegenwart wirkt er noch immer melancholisch; zumal ich ihn werde wieder weggeben müssen. ****** mag ihn nicht immer nehmen, wenn ich unterwegs bin, er rieche, er mache Schmutz, und unser Junge kümmere sich auch gar nicht um ihn, womit sie natürlich recht hat, ich seh das jetzt auch. Da wiederum ich das Tier nicht immer mit mir herumschleppen kann – das Tier wohl schon, nicht aber einen Käfig -, wird kaum ein anderer Weg bleiben, als es zurückzugeben… dann kommt es auch wieder in eine Gruppe und vereinsamt nicht, wie das seit dem Tod seines Bruders jetzt ausieht.
So, ARGO.
(Vielleicht schreib ich nachher auch ein Gedicht wieder. Das ist eines der wenigen g u t e n Ergebnisse dieser fortgesetzten Melancholie: >>>> die dichten kurzen lyrischen Texte, die aus der Erinnerung meiner Blicke entstehen; noch etwas unfertig meist, aber doch erstaunlich – für einen Prosaautor wie mich erstaunlich – musikalisch gesättigt und prägnant. Nicht von ungefähr hat in Frankreich gleich auch Prunier reagiert, auch wenn klar ist, daß ich das Gedicht dann jeweils immer noch umformulieren werde, manchmal in einer Zeile, manchmal nur in einzelnen Wörtern oder gar Silben. Er schafft es von Laon aus nicht, mit seinem Namennun Paßwort in Die Dschungel zu kommen, also stell i c hdas immer unter seinem ‘Konto’ für ihn ein, wenn er mir Entsprechendes als Mail herübergeschickt hat. Abgesehen von der kleinen GeditchÜbersetzung hatte er gestern noch ein paar wenige Fragen zum GRÄFENBERG-CLUB, den er zur Zeit ins Französische überträgt; es ging um ein Wortspiel, das, ich weiß es ja selbst, sogar in Deutschland wahrscheinlich erst einmal nicht verstanden wird.)

9.28 Uhr:
Anderthalb Seiten ARGO bereits geschafft, dann noch einmal an >>>> das Gedicht gegangen; dank >>>> mandragul kam ich aus einer Starre und schließlich auch i n s g e s a m t in den Fluß. Denn „Dem nahsten Orient“ ist zwar ein an sich schöner Titel, aber auch wieder gesucht, d.h. spürbar, vor allem über einem einzelnen Gedicht, das Teil einer Folge ist, die eine Frau beschreibt. Nun beginne ich die Verse mit ihren Überschriften, sozusagen aus der Bewegung, also „hab Dein“ und dann „da hobst Du den Arm“…wenn ich davon einige Texte haben werde, wird alleine dieses Vorgehen für eine Verklammerung sorgen. Dieses zusammen mit den Sonetten für K. könnte wirklich einen schmalen Gedichtbank ergeben, ihr gewidmet, auch wenn ich das nicht schreiben sollte: und das innige, nahezu geläuterte Ergebnis des bitteren Preises, den ich seit meiner Trennung sehr persönlich zahle. Das wäre dann – sollte es gelingen – k e i n e Sublimationsbewegung, sondern der Preis entspräche den abgefrorenen Zehen, die Messemer auf den Altar seiner Berge gelegt hat.

12.49 Uhr:
Vergeblich eine Stunde zu schlafen versucht. Die nächste – eine indirekte – Abagenachricht für ARGO traf ein. Ich war sowieso wieder in die Depression gerutscht, habe aktiv versucht zu weinen. Das ging nicht. Habe versucht, eine Stunde zu schlafen, das ging auch nicht: doch, kurz war ich weg, dann fuhr ich mit einem scharfen Schrecken auf. Es war gar nichts geschehen, es waren bloß ein paar Minuten vergangen.
Jetzt will ich mal duschen, wenigstens das. Etwas Ordnung im Raum schaffen, bevor Elisabeth kommt. Dann für den Kleinen Gechenke besorgen fahren. Es regnet draußen. Es regnet. Regnet.
Weitere anderhalb Seiten ARGO geschafft. Aber wozu?

Jetzt klingelt’s gerade. Und die Tür geht auf. Und, viel zu früh, ist Elisabeth hier. Ich bin nicht einmal richtig bekleidet. Egal.

18.40 Uhr:
[Händel, Tamerlano.]
An dem Hochhaus, das das Atrium des Alexanderplatzes zum Prenzlauer Berg hin abschließt, war an einem Kran das Stahlseil gerissen, woraufhin die Gondel eines Fensterputzers in schätzungsweise 50 Metern Höhe aus der Schiene kippte und nun völlig offen einseits hinabhing vor den Scheiben. Ein Polizei-, Krankenwagen- und Feuerwehraufgebot sperrte binnen kurzem die mehrspurige Fahranlage unten. Schaulustige, Schauerregte fanden sich und hatten steife Nacken. Ich radelte weiter, hatte aber noch den sich ganz oben kauernden, möglichst stillhaltenden Fensterputzer gesehen und einen kleinen, nur wirklich kleinen Moment lang gedacht: Wie gut er’s hat, gleich ist es vorbei.
Als ich zurückkam, hatte man ihn gerettet; ich fuhr eigens zu den Polizisten, um zu fragen. Einer zeigte hinauf. „Schauen Sie, sogar der Glaser ist schon da!“ In der Tat wurde oben gewerkelt, wo vorhin die seitlich herausgekippte Gondel sozusagen an ihrem letzten Faden gehangen hatte und nun ein Loch ins Glas geschlagen war. „Das haben Sie gut gemacht“, sagte ich und fuhr mit meinen Geschenken heimwärts.

Es war eine typische HerbstNummer imKaufhof. Was ich für meinen Jungen haben wollte, bekam ich zwar nicht, aber etwas Ähnliches Schönes und gleich für seinen Geburtstag am 30. Januar noch mit, alles aus der Lego-Star-Wars-Serie; und dann schaute ich nach einem Geschenk für ******, wußte auch was ich wollte, deshalb war ich ja hergekommen… fand dann aber etwas anderes noch, das ich mir nun wirklich nicht leisten kann. Es ist sogar hoher Wahnsinn gewesen, das zu ignorieren, ich hab gerade meine Post geöffnet, die vor Vollstreckungsankündigungen und Mahnungen nur so pumpte… – egal, seit Monaten, fast Jahren suche ich wieder nach einem Parfum für mich, nachdem mein geliebtes Patou pour homme nicht mehr hergestellt wird und sich nur gelegentlich um furchtbare Summen aus den den USA besorgen läßt; das Parfum war h i e r schon immer teuer, aber 240 $ für 2 oz. ist nun wirklich j e n s e i t s (außerdem addieren sich immer noch die Frachtkosten hinzu). Jedenfalls stand ich in der ParfumAbteilung, als mein Blick auf eine sehr schlichte Flaschenreihe bei den Damendüften fiel. Da ich die Neigung habe, oft noch jahrelang Gerüche von Frauen zu tragen, die ich einmal geliebt habe, sofern sie auch mich liebten – und wenn die Liebe oder Affaire obsessiv war, n u r dann -, hab ich da keine Berührungsscheu. Und probierte also etwas herum. War sofort betört, ja im antiken Inselsinn becirct… be-fata-t muß das heißen: denn:: A r a b i e heißt dann der eine Duft, A m b r e S u l t a n der andere, die ich auflegte und nicht mehr missen mochte. Ich entschied mich schließlich für die hellere Varianta, Arabie. Wen die Serie interessiert, möge bei >>>> Serge Lutens schauen, der mir sogar als Männertyp sympathisch ist. Er lebe, erzählte die von den Parfums spürbar vibrierende Verkäuferin, in Marokko, und einige seiner Düfte hinterließen das Gefühl, man sei über einen orientalischen Markt geschlendert. Kurz, ich kaufte und bin nun in Duft und Ideologie und Sehnsucht nahezu einig. Deswegen kann ich auch wieder Musik hören, glaube ich. Der Kauf war dennoch Wahnsinn, denn selbstverständlich sind die Preise dieser Düfte im oberen Segment angelagert, besonders, wenn man Herrendüfte zum Vergleich heranzieht.
(Wegen des anderen Dufts – nein, zweier wegen – Ambre Sultan und Vétiver Oriental werd ich nun bisweilen morgens unparfümiert zum Alex radeln, mich einsprühen und wieder zurückradeln. Was die Kasse nicht mehr hergibt, solln dann halt die Waden schaffen.)

Ein paar Blicke in die elektronische Post, ein sehr schöner Brief von Prunier aus Laon:

Ich habe vor, Ihre Gedichte veröffentlichen zu lassen… hätten Sie etwas
dagegen? Es wäre in einem kleinen spezialisierten Verlag, der trotzdem sehr geachtet wird (es wäre im Laufe vom nächsten Jahr). Es gehört zu einem Plan, den ich hege, um Ihr Werk bekannt zu machen… aber mehr im Brief… (…) Ich denke an Sie, und die Übersetzungen der zwei Gedichte waren nur kleine Winke, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie tief respektiere und mit Ihnen bin.

Und dann ein Gespräch im >>>> sadomasochat.de mit einer mich sehr lockenden Frau, die irgendwie das Gespür hat, womit ich weit über alles Sexuelle hinaus in Bann zu ziehen bin, die mich aber zugleich stets attackiert und zurechtweist und, hab ich den Eindruck, mir einen Stil anerzwingen, ihn mir aufzwingen will, der nicht der Meine ist. Jedenfalls schickt sie mir ein Bild, das meinen Atem stocken macht: Wie der Maler Fichte, als er das erste Mal Irene Adhanari begegnete, so seh ich manche solcher Bilder a n: immer bereit, wieder zu hoffen. Und was tut die Frau? Sie zieht es wieder weg. Etwas, das ich ebenfalls im Netz sehr häufig erlebe und erlebt habe: die sozusagen anonyme Ausprägung des double binds, womit Leute abhängig gemacht werden sollen. Daraufhin bocke ich, klar, und wieder geht etwas kaputt. (Das aber auch gar nicht war und sehr wahrscheinlich nie geworden wäre… na ja, sowieso: irgendwo hinter Hannover lebt sie… wer ein fünfjähriges Kind hat und ihm richtig Vater ist, dem schließt sich solch eine Entfernung für eine neue – wirkliche – Liebe aus. Die ja Besessenheit will und nicht Planung.)




D a s ist jetzt schön:
Ciel e terra armi di sdegno
morrò invitto, e sarò forte.
Chi desprezza pace e regno,
non potrà temer la morte.
Tamerlano, Händel