Dienstag, der 20. September 2005.

4.48 Uhr:
[Nielsen, Dritte Sinfonie „Espansiva“.]
Dieses Tagebuch in Der Dschungel ist sehr teuer, seelisch teuer: Es führt nun abermals zu einem Rückzug eines mir werten Menschen. Was soll ich tun? Die Dschungel aufgeben? Es wäre ein Zeichen künstlerischer Korruption. Sie weiterführen? Das scheint mitten in das hineinzuleiten, was Filz neulich „soziale Depravation“ genannt hat. Ich muß mich fragen, ob das nicht tatsächlich der Preis ist, den neue radikale Kunstprojekte zu entrichten haben und, nämlich schon seit jeher, zu entrichten hatten. Selbstverständlich geht es um das „Private“, das geschützt werden will, von dem ich meinerseits aber frage: Weshalb? Was i s t das, das sich hier verbirgt? Worin liegt eine Gefährdung, wenn über, sagen wir, Schwächen gesprochen wird? Denn die haben ja F o l g e n, auch künstlerische; man wirkt aufeinander, wir sind keine Monaden. Solche Ursachen der Betrachtung zu entziehen, heißt, die Dinge und Geschehen selber der Betrachtung zu entziehen. Gerade in Fragen von Liebes- und sonstigen Partnerschaftsbeziehungen führt das zu einer Verunklarung und Ideologisierung der Prozesse und in Sachen Anthropologie insgesamt eben auch. Etwa scheint mir das wirkende Geschlechterverhältnis ein völlig anderes zu sein als „offiziell“ vertreten wird; darüber läßt sich eben nur sprechen „an Beispielen“, alles andere ist reine unbelegbare Theorie. Indem nun einer sich selbst (wie der Autor sich in Den Dschungeln) zum Beispiel m a c h t, k a n n er bezüglich der Geschlechterverhältnisse gar nicht anders, als eben auch andere zum Beispiel zu machen. Wovon die Möglichkeit und in bestimmten Fällen auch Selbstverständlichkeit, Namen und Umstände zu fingieren ja völlig unbenommen ist. Im übrigen folgen Die Dschungel der Spur auch und gerade tiefer Gefühle vom Körper (also ihrer Physiologie) bis schließlich in den literarischen Text etwa eines Romanes (also ihrer ästhetischen Wirkung).

Um halb fünf hoch, den latte macchiato bereitet, das DTs und die Überlegung hierüber skizziert, die mich, kaum hatte ich die Füße aus ihrer horizontalen Lage senkrecht auf die Dielen gesetzt, geradezu sofort zu beschäftigen begannen. Jetzt aber ARGO. Und später noch, auf der Hauptseite, eine >>>> Definition des Korrupten Verhaltens, damit Sie wissen, was in Den Dschungeln eigentlich darunter befaßt ist: also wie weit hier seine F ä h r t e reicht.

14.38 Uhr:
[Bei Nielsens Dritter wieder und während der Mittags-Espresso aufsitzt.]
Zwei Seiten ARGO und öffentlich sowie in persönlichen Briefen über das PROJEKT PRIVATHEIT, seine Gründe und die für mich oft schmerzlichen Folgen diskutiert: Schon hat es ein weiteres Mal mit g a n z-großem Furor erst WUMM und HERZEINSCHLAG gemacht und dann…. ein klitzkleines PLOP. Da hat sich wiederum eine Möglichkeit von Welt in nichts als fahle Projektion aufgelöst. Da bin ich trotzig meine fünfeinhalb Kilometer zu laufen fortgegangen, hab außerdem ziemlich rumgehantelt, daraufhin ein ganz gesundes Zeug in mich hineingestopft und eine tiefe tiefe Stunde geschlafen.

Stellen Sie sich das s o vor: Links sitzt auf der Parkbank ein kleiner Junge, rechts aber sitzt niemand außer seiner Geschichte, die allerdings bereits so schwer ist, daß sie den Jungen und dessen ganze Parkbankseite wie die leichtere Hebelhälfte einer Wippe kraftvoll anhebt… – kraftvoll und so plötzlich, daß der kleine Junge von seiner eigentlich noch gar nicht eingetretenen, sondern ihm ‚bloß’ vorgeschriebenen Geschichte weit hinweggeschleudert wird. – So, meine Bösen und Lieben, träumte es mir. Was aber real bei PENNY geschah, davor, als ich Müsli kaufen war, davon erzähle ich später, sonst wird der heutige Tagebucheintrag zu lang. Bitte erinnern Sie mich daran, falls ich es vergessen sollte.

6 thoughts on “Dienstag, der 20. September 2005.

  1. “Weshalb? Was i s t das, das sich hier verbirgt?” Ich stelle mir das so vor:
    Es gibt Indianerstämme im Dschungel des Amazonas, die jene Kinder, die mit Behinderungen auf die Welt kommen, im Dickicht aussetzen.
    Vielleicht empfinden die Menschen, die Sie im Tagebuch erwähnen, ihre Schwächen als Krankheit. Und Sie setzen sie aus, werfen sie den Raubtieren zum Frass vor.
    Vielleicht.

    1. Den Schwächen entsprechen aber Stärken. Und auch von denen wird erzählt. Was Schwächen anbelangt, so sind es ja meist m e i n e, die ich gestalte und den Raubtieren zuwerfe (in der Überzeugung zwar, daß die zubeißen, aber auch im Glauben daran, daß sie sich den Magen damit verderben und mich wahrscheinlich wieder ausspucken werden). Im übrigen ist zu fragen: Wer denn diese Raubtiere seien und ob wir sie nicht bloß dadurch zu Raubtieren machen, daß wir ihnen eine Macht zuerkennen, die sich letztlich durch ebenfalls nichts anderes als durch Schwächen, aber verstellte, legitimiert.
      Der “Skandal”, der mir in den letzten Jahren so verdächtig gerne zugeschoben wird, ist ja nicht nur einer Der Dschungel, sondern meiner Bücher überhaupt: daß ich aus einer Situation der ökonomischen und sozialen Schwäche heraus über Sachverhalte spreche (schreibe), über die ein gesellschaftlich Schwacher zu schweigen hat. Wobei gesellschaftlich schwach in allererster Linie die Ökonomie meint und danach gleich die soziale, bzw. politische Akzeptanz. Etwa darf Philip Roth gänzlich ungestraft über erotische Verhältnisse schreiben, weil er in ein kulturelles Umfeld gehört, das der Deutschen völkermordender Barbarei wegen heutzutage unanfechtbar ist; und Thomas Pynchon darf über Verhältnisse und Beziehungen schreiben, wie es wiederum einem Deutschen verboten wäre, alleine, weil der kein Deutscher i s t. Es kommt da auf Inhalte gar nicht an, sondern auf Positionen. So etwas unterläuft von Anfang an mein Werk – oder versucht zumindest, es zu unterlaufen. Es hält sich, mit anderen Worten, nicht an die Regeln. Und eben auch nicht an die des vorgeblich Privaten. Tabus – alle – werden abgeklopft und befragt. Darauf aber steht – Sie wissen das -, religionsgeschichtlich und religions-machtpolitisch gesehen: – Verbannung.

    2. Aber das ist es ja. Verbannung – im religionsgeschichtlichen Sinn – heisst aber komplette Isolierung.
      (Auch dieses bitte ich als religiöse Metapher zu verstehen:) Radikale Trennung von Gott, das heisst, Herausgeworfensein aus der Gemeinschaft und der Familie.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .