Wissen durch Einschliff. Frank Witzels RAF (4). Stammheim, 18. Oktober 1977.

In jener Nacht auf den 18. Oktober gegen 0.30 Uhr erstrahlten die Kerker im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim in einem hellen Licht, und der Wachbeamte Hans Springer wurde von einer unbekannten Stimme, die ihm versicherte, für die Bewachung der Gefangenen sei gesorgt, für drei Stunden von seinem Posten abgerufen. Eine Lichtgestalt betrat die Zelle mit der Nummer 716, als wäre sie nicht mehrfach verschlossen, mit Alarmanlagen gesichert und zusätzlich mit gepolsterten Spanplatten verstellt. Und sie stieß den Gefangenen in die Seite und weckte ihn und sprach: „Steh schnell auf.“ Jan-Carl Raspe erwachte und meinte, das Jüngste Gericht sei hereingebrochen, doch da erkannte er den Erzengel Michael und wußte, es war erst das Partikulargericht, das nun anstand, denn es steht geschrieben, daß ein jeder Mensch zweimal gerichtet werde, einmal als Inividuum zur Stunde seines Todes und dann noch einmal als Teil der Gesellschaft, wenn sich die Seele erneut mit dem Körper vereinigt am Jüngsten Tage, wenn von allen Rechenschaft gefordert wird, wenn die Apusie Christi sich in eine Parusie verwandelt und er die Urteile des Partikulargerichts bestätigt oder auch aufhebt und revidiert. Der Engel hieß Jan-Carl Raspe sich auf das Bett setzen, und Jan-Carl Raspe wußte nicht, ob seine Hand geführt wurde oder er selbst sie führte, doch dann hielt er sich eine Pistole der Marke Heckler und Koch an die linke Schläfe und drückte ab. Und die Kugel drang durch seinen Kopf und durch die Wand hinter ihm, und sie verließ die Zelle und fand ihren Weg zur Zelle 719, wo sie in Andreas Baaders Genick eintrat, seinen Körper durchschlug, am Boden abprallte, erneut die Wand durchdrang und ihren Weg zur Zelle 725 nahm, wo sie mit letzter Kraft den Brustkorb Irmgard Möllers unterhalb des Herzens erreichte, diesen aber nur äußerlich verletzte, sodaß man meinen konnte, ein stumpfes Messer habe diese Wunde geschlagen. Dann verschwand der Erzengel Michael unerkannt, wie er gekommen war, und hielt die Augen derer, die Wache standen in und um den Kerker, weshalb sie nichts anderes als einen kurzen Stromausfall meinten wahrgenommen zu haben, als man sie am anderen Tag nach den Vorkommnissen der Nacht befragte.

Frank Witzel, >>>> DEdRAFdem-dTiS1969, S. 574/575



[Witzels RAF, 3 <<<<]

2 thoughts on “Wissen durch Einschliff. Frank Witzels RAF (4). Stammheim, 18. Oktober 1977.

  1. Witzel packt an dieser Stelle die Legende, die sie ist, am Schopf ihrer Dynamik, indem er der eingeschliffenen Überzeugung, es habe sich um Selbstmorde gehandelt, die nicht minder wahscheinliche einer direkten göttlichen Lenkung zur Seite stellt: die eine “Übernatürlichkeit” ist von selbem faktischen Wert wie die andere. Verstärkt wird dies noch besonders durch den an seinem Anfang höchst irritierenden Satz Der Engel hieß Jan-Carl Raspe sich auf das Bett setzen; irritierend weil von dieser Formuliuerung sofort Der Engel hieß Jan-Carl Raspe hängenbleibt, und zwar wirklich “bleibt”, auch wenn der Fortgang des Satzes etwas anderes zu wollen scheint.

    P.S.: Böser wäre gewesen, hätte der Nazarener die Augen der Wachen nicht nur gehalten, sondern zugehalten: “und hielt die Augen derer z u, die Wache standen in und um den Kerker”; wobei es sich über “in den Kerker Wache stehen” sehr lange meditieren läßt.

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