Wieder einmal ist es hoch interessant, wie sich Romanfiguren verselbständigen, und zwar gerade dann, wenn sich ein Text über mehrere Bücher erstreckt, also auch autorenbiografisch der Zeit unterliegt. Ein gutes Beispiel ist Tonio Ungefugger, für den einst *** und sein berühmt-berüchtigter Strukturvertrieb, den ich aus eigener Anschauung sehr genau kannte, als Vorlage dienten. Bis in die Farbgebungen hinein hab ich das nachgestellt, und das große Mainzer Bundesgeschäftstellenleitertreffen der EWG in THETIS ist nicht etwa Karikatur, sondern nahezu ein – freilich in die utopische Welt des Anderswelt-Projektes transponiertes – Protokoll. Im Roman stattete ich den Mann mit noch mehr Macht aus, als er ohnedies schon hatte, und setzte diese auf seine zweifelsfrei enorme, besonders auf schlichtere Gemüter wirkende Verführungskraft. Das übertrug ich auf Buenos Aires und den darbenden Osten Europas und politisierte schließlich, was in der „Realität“ bloßer Geldhunger war. Genau das hatte zur Folge, daß meine eindeutig ablehnende Haltung gegenüber dieser Figur bereits in THETIS schleichend zerfiel: Sie bekam einen zunehmend ambivalenten Charakter, tatsächlich Charakter nämlich, ob ich das wollte oder nicht. Plötzlich befand sich Ungefugger in tragischen Situationen, er wurde leidfähig und selber getrieben. Der Roman schuf aus dieser Figur ganz gegen meinen Willen einen Menschen. Hiergegen kann sich ein Dichter nicht wehren, will er auf die poetische Entwicklung hören, die sich ihm eingibt, die aus den Sätzen, aus unversehenen Einfällen springt, an die er anfangs gar nicht dachte und auch nicht denken konnte. Nun setzt sich das in ARGO fort, ja besonders die Verantwortung, die Ungefugger jetzt als Staatspräsident trägt, formt ihn zu einer mich selbst beeindruckenden Gestalt. Und dies, obwohl mir seine Politik alles andere als angenehm ist. Unter einem wie ihm wäre auch ich Myrmidone. Aber der Mann macht einem klar, was unter Staatsraison verstanden werden muß. Und bekommt genau darüber diesen sehr massiven mythischen Zug, den er selbst als Unsterblicher und trotz seines Eisblicks noch in THETIS nicht hatte. Da bestand er zu zwei Dritteln aus Gier und zu einem aus Kitsch. Nun ist er hart geworden und geworfen zugleich.
Etwas Analoges ist mit Elena Goltz vor sich gegangen und vor allem mit ihrem intriganten Mann. Eigentlich unterliegen nur Holomorfe (in ANDERSWELT sind das nach Menschen designte Computerprogramme) diesem Prozeß einer ständigen Wandlung nicht. Aber auch das ist nicht ganz wahr.
Darüber meditierend, wird mir bewußt, daß es in einem guten Roman böse Menschen nicht geben kann und imgrunde auch keine guten. Die handelnden Personen sind letztlich Strukturen und also solche – nicht als Erscheinung, aber in ihrem Wesen – durchweg allegorisch. Das heißt, sie sind tragisch. Der „gute“ Roman, also der gelungene, löst die Normen jeder moralischen Sicherheit auf. Schon deshalb wird er zwar immer politisch, nie aber parteipolitisch sein können.
Wenn ich diese Spekulation erkenntnistheoretisch auf unsere gesellschaftlichen Realitäten übertrage, dann wird jede Rede von einer „Achse des Bösen“ zu einer puren Propaganda, die nicht f r a g e n lassen will. Und weil die feste moralische Norm beruhigend ist, findet eine solche Propaganda immer ihre Wähler.