Argo. Anderswelt. (5). Und 1 1/4 Jahre nachher: WIE ROMANE WACHSEN.

Die Druckwelle ging von der Brücke aus. Erst die Druck-, dann eine Hitzewelle, die blähte das Leben, kaum waren die Gebäude krachend platzend teils eingestürzt, teils geborsten, wie mikrowellenerhitzte Schaumküsse auf. Ohren klebten an den metallenen Masten, die waren kurz erglüht, dann krümmten sie sich erkühlend, im Winken erstarrte starrende Fühler biomechanischer Tiere. An ihnen verfingen sich, wie Flatschen Pflaumenmus, schwarze Herzen und aufgepustete Nieren. Lungenhaschee tropfte von Dachrinnen, die als Teile bizarrer Teleskope in den Himmel ragten, ausgeschüttelte Därme, schwernaß von Blut und Magensekret, hingen von ihnen herab. Man hatte erst gar nichts gehört, einige sahen den Lichtblitz und waren schon blind, andere drehten sich zu spät um, immer noch zu früh, sie konnten nicht einmal schreien, schon war die Seele Molekül. Bogenlampen geduckt wie Ähren, viele knickten, sirrten sangen den Zorn des Peliaden, über den Rasen floß Luftglut, das Spreestück verdampfte. Gischtend knallten Wasser nach, die brodelnd in die Höhe schossen, siedende Tropfen zischten auf die Trümmerämter, ätzten sich in Gehaste Beine, die ihre Oberkörper suchten. Nur Holomorphe schritten unbehelligt hindurch, waren entsetzt erstaunt, manche heulten, begriffen nicht, sie mochten ihr Leben, kannten Tranteau nicht nicht die Wölfin Aissa wußten nichts von den Schändern den Frauen vom Osten. Was wollten sie vom Jihad? Aber das fragten sie nicht, über sie schnitt, durch sie, die zweite Welle, bis nach Bautzen nach Salamanca flogen Zweimeterpfeile Plexiglas, in die das luzide Gewölbe des Hauptbahnhofs auseinanderplatzte, Kometenschnuppen von den Plejaden, weißblitzend unter dem europäischen Schild, Wellington’s Monument war wieder schwarz, die Königliche Oper versackte. Der Retiro ein Gebiet für Köhler, die keiner brauchte, für Ratten später, ein neuer alter Potsdamer Platz, in dem das Gesocks von Sarajewo hauste, kaum ein Jahr später, ein neuer Natodrahtzaun darum her, durchstreift von illegalen Jägern, die mit dem Ausschuß Fangen spielten. Das Kanzleramt brach in die Knie, der Kanzler der Stadt hatte die seinen verloren, der letzte Ruf galt Pontarlier. Und seine Adlaten seine Frau die Geliebten krochen hinter den Bruchstein und unter Platten, als der Mann oberhalb des Zwerchfells in den Himmel jagte, leibhaftig Organ für Organ, der Rest darunter fuhr in die Hölle. Seine Mitte, der Magen, blieb liegen. Es ging zu schnell, um Deckung zu suchen. Geblähtes schrumpfte verkohlt, lag wie Kacke, was einmal Mensch war. Und dampfte wie Kacke, dabei war es warm. Tausende Menschen Kohle, Parlamentäre, der Bürgermeister, wie Wurfschlacken flogen Senatorenextremitäten herum, die Staatssekretäre nahezu alle versuppt, auch die Kinder, es war ein Jammern über der Stadt wie von Geiern Harpyen fliegenden Weibern, die rissen sich die Brüste vom Leib und schleuderten sie nach Buenos Aires’ Mitte hinab. Sie explodierten, waren Biogranaten, Schrapnelle aus bissigen Würmern wieselten, lebendige Missiles, nach atmendem Fleisch. Spinnengrau das Europäische Dach.

(Pontarlier, so fern, sah die Verwüstung im TV.]

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NACHTRAG I. (21. 10. 2004).
Mir fiel vorhin auf, daß auch die “Harpye” eine Verharmlosung ist. Das Wort stimmt, aber es darf sich nicht ins Metaphorische verflüchten, muß also konkret sein. Deswegen werde ich fliegende Kampfdrohnen, die ebenfalls intelligent sind, in die Luft katapultieren lassen: Geschöpfe aus Metall und Fleisch und Flüssigsprengstoffen in den Adern. Dann bekommen sie nach den Erfahrungen der letzten Kriege eine ungeheure Realität. Und bleiben dennoch ans Epische gebunden.

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NACHTRAG II. (13. 2. 2006).
Hier beginnt nun eigentlich der Roman. Was ich hiervor, ARGO (1) bis (5), notierte, wird erst heute, über 600 Seiten später, verwendet. Die Szene von Deters’ Erweckung in der Archivdatei, die insgesamt treibender Motor der Erfindungskraft war, blieb die ganzen Monate über wirkend erhalten, aber wartete: wartete auf den Moment, in den sie gehört. Sie wäre, o b w o h l Motor, früher völlig falsch gewesen, hätte nämlich den Stundenzeiger der Romansemantik auf ein Gedankenspiel gestellt, das dem weiteren Verlauf etwas Beliebiges gegeben hätte. Mancher Leser hätte dann gedacht, na ja, ist eh nur ein Film. Nun aber hebt der Roman mit 9/11 an – mit einem realen Trauma, das sich in der verfremdeten Action zu verarbeiten sucht.

[Poetologie.]





Siehe hierzu die von parallalie angestoßene und nicht nur hier, sondern auch >>>> d o r t geführte Diskussion.



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3 thoughts on “Argo. Anderswelt. (5). Und 1 1/4 Jahre nachher: WIE ROMANE WACHSEN.

  1. es gehört zu den uneingestandenen halbwachträumen, was beispielsweise ich am 11.9.2001 zuerst am eigenen leib erlebte: daß mir nämlich ein zahn gezogen wurde, dessen virulente abwesenheit dann auf der rückreise nach hause im zug und dann mit dem auto (eineinhalb stunden mindestens) mir im verlauf der angedeuteten zeit sich immer mehr zu einem akuten schmerz entwickelte; daß ich aber dann durch einen anruf darauf hingewiesen sah und nicht sah – so fern und doch so nah -, nämlich mir auch wieder nur vorgestelltes zerrissenes fleisch (denn die verwüstung war zwar sichtbar, nicht aber das zugrundegehende menschenfleisch). dies soll eigentlich eine kritik am text sein, die sich jedoch selbst annulliert, weil sie eigene halbwache vorstellungen der kritik zugrundelegt. unmenschlich ist der text, unmenschlich sind die halbwachen vorstellungen. – allerdings bringt mich diese vorstellung von heilloser zerstörung ohne einen weiteren text in keine versöhnende utopie. mag sein, daß die gegenwart stets ausweglos erscheint: denn ich denke an die im ersten weltkrieg gefallenen expressionisten, an die postapokalyptischen texte arno schmidts. aber einen weg aus der gegenwart zeichnet zumindest der obige text nicht vor.

    1. Das kann auch nicht die Aufgabe eines Textes sein. Die Anderswelt-Bücher schildern Gegenwart, verkleidet gewiß, aber Gegenwart: mit allem Furchtbaren und allen Schönheiten und sämtlichen Lüsten, seien sie kybernetischer, seien sie sog. realer Natur. Die einzige Hoffnung, die darüber hinaus statthaft wäre, ist eine, die durch F o r m bannt und betrachten läßt, erschauern läßt – dies ganz im Sinn der antiken Katharsis. Indem wir etwas Tragödisches vorgeführt bekommen, können wir es allein dadurch, daß wir es betrachten – und nicht wegschauen müssen -, faßbar machen.
      Im übrigen ist dies der geplante Anfang, kaum mehr, eines Romans, eines dritten Romanes, dessen erster Band eine sehr viel größere Katastrophe sah. Die “Geologische Revision” genannt war. Und ist.

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