„Da hab ich was richtig gemacht“, sagt sie, ihm gegenübersitzend in der Kneipe.
Sie trinkt Milchkaffee, er einen Absinth, zu dessen Genuß ihm die Bedienung „Na dann viel Spaß“ gewünscht hat.
„Wie meinen Sie das?“
Auch sie kennt er aus dem Netz. Sie flirteten dort, trafen sich, er wollte mit ihr spielen, sie wies ihn zurück. Damit hatte sie recht getan, er hätte sich nicht verliebt und wäre auch diesem überaus jungen, doch grobknochigen, derben Körper kaum verfallen. Neulich hatte sie wissen wollen, ob sie devot sei, das war Teil des Chat-Spiels gewesen.
„Ich bin es nicht“, sagt sie jetzt. „Ich war am Wochenende mit meinem von nun an gewesenen Freund zusammen. Mein Gesicht ist gegen die Wand geknallt.“
„Was hat das mit Devotsein zu tun?“
Ständig zucken ihre Lippen, aber nur rechts.
„Wir haben wieder was ausprobiert. Ich bin ihm nicht devot g e n u g.“
Sie beißt ständig drauf, raucht so hastig wie er, der, weil er nach Monaten wieder Krawatte trägt, in der Gaststätte wie ein Fremdkörper steckt. Außer der Tresenbeleuchtung brennen nur Kerzen. Es läuft stiller Blues, guttural von einer Sängerin vorgetragen, die eine Jazz-Combo begleitet. Ein Klagegesang, der den sehr dunklen Raum nahezu sakral wirken läßt.
„Vielleicht wußte er nicht, Sie zu führen. Wie alt ist er?“
Sie rechnet, man sieht es, nach. „Drei Jahre älter.“
Er lacht vorsichtig auf, will nicht verletzen. Der Anzug, den er trägt, ist seine Rüstung. Anfangs versucht sie, ihn aufzubrechen, hat ihm dauernd Fragen gestellt: Wieso lassen Sie Frauen so schnell wieder fallen? Was wollen Sie immer von jungen Frauen? Was reizt Sie an dem Spiel? Wieso interessieren Sie sich so wenig für die Frau selbst? Er hat kurz davor gestanden, wieder zu gehen. Ihre Fragen sind naiv, zudem voreingenommen. Antwortet er, erwidert sie: „Das glaube ich nicht.“ Oder: „Das ist mir zu einfach.“ Ihm liegt die böse Gegenfrage auf der Zunge: „Schreiben Sie für eine Schülerzeitung über den dominanten Mann?“ Aber er verschluckt das. Es geht, das ist zu klar, in keiner Weise mehr um Erotik.
„Weshalb fragen Sie mich das? Was wollen Sie w i r k l i c h wissen?“
Sie kaut abermals auf der Lippe, stößt heftig Rauch aus. Sie hat, das betont der jugendliche, lässig-indianische Schnitt ihres durch allerlei Schnürchen bordierten Kleides, schwere, ballrunde Brüste, er hebt sie mit seinen Blicken an. Auch unter ihnen das Fleisch fest verpackt. Das Becken ist für Drillinge gemacht.
„Sie sind ihm sehr ähnlich“, sagt sie.
„Ihrem Freund?“
„Nein, diesem älteren Mann.“ Sie hatte, das weiß er von der ersten Begegnung, eine Geliebten-Beziehung mit einem Mann geführt, der drei Kinder und eine Ehefrau hat, sie sei, hatte sie erzählt, gerne Geliebte gewesen, er wohne in einer anderen Stadt. Aber es war nicht mehr gegangen, die Affäre war herausgekommen, seine Familie schien zu zerbrechen, er hatte die Sache beendet.
„Sie lieben ihn immer noch.“
„Ja.“
Seit einem dreiviertel Jahr sehen sie sich nicht mehr, aber er ruft immer wieder an.
„Auch er will keine Harmonie“, sagt sie. „Auch er will dauernd Neues. Auch er bricht dauernd aus.“
Sie greift nervös zu ihren Zigaretten, er gibt ihr Feuer.
„Da hab ich was richtig gemacht“, sagt sie.
„Was haben Sie richtig gemacht?“
„Daß ich das Kind nicht bekommen habe.“
„Von ihm?“
Sie nickt.
„Weiß er davon?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Wann war das?“
„Im September letzten Jahres.“
„Hätte er es haben wollen?“
„Ein Kind braucht Harmonie“, sagt sie. „Ein Kind braucht sichere Verhältnisse.“
„Woher wissen Sie das?“
Die Abtreibung quält sie. Sie wird das Leid nicht los. Wegen der Abtreibung hat sie im Netz Kontakte gesucht und devot, masochistisch wahrscheinlich, zu spielen versucht. Den einen Schmerz, gegen den sie hilflos ist, gegen einen anderen eintauschen wollen, zu dem man sich verhalten kann, den man annehmen kann. In einer neuen Beziehung annehmen kann. Die Geliebten-Beziehung in der neuen wiederholen, die auch den Schmerz wiederholt, aber als bewußten, gewollten. Und ihn diesmal besiegen. Beide: den Schmerz und den Mann. Denn die Abtreibung tut einer Frau immer der Mann an. Ob er von ihr weiß oder nicht.
„Ich hätte seine Familie zerstört“, sagt sie. „Dazu habe ich kein Recht.“
Die junge Frau will eine Entschuldigung hören, sie s u c h t nach einer, still verzweifelt. Und ihn da, den Mann in seinem Anzugpanzer, hat sie sich als Beichtiger erwählt: Er soll ihr den Ablaß erteilen, soll ihr Abtestat s e i n. Er denkt an die desolaten, in die Enge getriebenen Kinder von Ramallah, er denkt an die Bettelkinder von Bombay, er denkt an die Kinderopfer des Iraks.
„Ich weiß nicht“, sagt er langsam, „ob Sie es richtig gemacht haben. Vielleicht haben Sie es falsch gemacht. Ich weiß nur eines: Wer lebt, w i l l leben. Auf die Verhältnisse kommt es nicht an.“
Mir fällt noch ein. (Projektionen). Indem die junge Dame den Mann mit dem Vater ihres abgetriebenen Kindes identifiziert („Sie sind ihm ähnlich.“), setzt sie ihn an dessen, dem sie von der Schwangerschaft nichts errzählte, Stelle. Er dient als Platzhalter nun, wird symbolisch zum anderen. Und eben als d e r A n d e r e soll er ihr sagen: „Du hast richtig gehandelt.“
D a s steht hinter dem Ablaß-Begehren.
„Wer lebt, w i l l leben.“ Welch ein Trost, dass man nicht leben muss. (C. Wolf) fiel mir da gerade spontan zu ihrem titel, der aussage des mannes ein. ein kontrastives modell: die tröstung also, die sich aus einem scheinbaren nichtzwang zu leben ergäbe, und die ein ausscheiden verhindert – kein willensakt, schliesse ich daraus, eher ein geschickter selbstbetrug auf zeit, aber nachvollziehbar und an „wollen“ höchstens der wille zum aufschub … aber unter dem gesichtspunkt leben=aufschub hat er nun auch wieder recht.
Da stimme ich zu. Wenn die erlebte Not die erlebte Lust verschattet oder wenn gar eine solche Lust nicht mehr da ist. Man kann sich allerdings töten, weil man so gern lebt. Das ist ein Gedanke, der sehr viel mehr Trost hat. Ich selbst würde das tun, wenn ich nur noch Leiden erlebte. Aber ich täte es, um das Leben nicht zu denunzieren. Hier setzt die bejahende Freiheit an.
Solange jemand aber lebt, solange w i l l er es auch. (Es sei denn, der Mensch ist eingesperrt, ist bewegungsunfähig und an Versorgungschläuche geschlossen – oder wenn er an Fremdbestimmung durch Götter glaubt und sich vor Jenseitsstrafen fürchtet.)