Die Mösenkathedrale, das Meer: Vision der Nacht vom 16. auf den 17. März 2015. Untriest 46: Dienstag.


Arbeitswohnung, 8.37 Uhr
Gewaltiges Frühlingsleuchten

Liebste,

ich hatte, im Traum, eine Vision – man kann es nur deshalb nicht Traumgesicht nennen, weil sie von solcher Mächtigkeit war und mir, scheint’s, stundenlang vor meinen Augen stehen blieb. Obgleich schon fast wach, schloß ich von halb sieben an bis kurz vor acht, wann immer mich der Wecker ermahnte, neu und neu die Augen und betrachtete nur dieses Bild. Wäre ich ein Maler, ich faßte es in Öl oder, wie Giger, mit Spritzpistolentechnik – auch auf die Gefahr hin, Fantasykitsch zu produzieren.
Ganz sicher hängt dieses Bild mit der Serie zusammen, deren zweite Staffel ich gestern nacht zur Hälfte sah, >>>> Black Sails. Erzählt wird die Vorgeschichte zu Stevensons Schatzinsel, einem Buch, das bis heute zu den magischen Leseerlebnissen meiner Jugend gehört; insbesondere Long John Silver hat für mich nie an Kraft und Bedeutung verloren, wohl gerade wegen seiner hohen Ambivalenz. Seinmein inneres Umfeldstrahlen läßt sich in mir mit großer Leichtigkeit reaktivieren; von all meinen Jugendlektüren hat nur noch Sherlock Holmes >>>> einen tieferen Einfluß auf mich behalten – jedenfalls was Romanpersonen anbelangt; für Romane, als solche, nämlich als geschlossene ästhetische Welten, waren es andere Bücher, besonders >>>> dieses. Ich spreche von dem intellektuell prägenden Alter zwischen vierzehn und achtzehn, einem, in dem sich für die, glaube ich, weitere Lebenszeit die innere Bildwelt ausformt. Danach bearbeitet oder modifiziert man nur noch Details.
Meine Vision kann aber auch mit der erneuen Lektüre von Eckers >>>> Letzter Kränkung zusammenhängen; ich nahm wegen der zu schreibenden >>>> Laudatio das schmale bildstarke, freilich eher novellenhafte, als daß es ein Roman wäre, Buch wieder vor, das ebenfalls am Meer spielt. Dieses nun, Liebste, vermischte mein träumender Geist mit wahrscheinlich meiner Sehnsucht, und so hatte die Frau, die sich in der Version entblößte, kein Gesicht. Ich kann nur annehmen, daß es sich um die junge resolute Leiterin handelte, die Nassau, seinerzeit eine Piratensiedlung, in der genannten Serie zum wirtschaftlichen Florieren bringt. Zumal ist sie, diese Serie, für US-Verhältnisse ziemlich unprüde; das hat wohl dem Traum den Einschlupf erlaubt. Selbst ein Schwanz ist manchmal zu sehen, freilich nicht erigiert; anders ginge es denn wohl doch zu weit. – Jedenfalls hob die junge Dame ihr Kleid, unter dem sie nichts trug, und die Kamera fuhr auf ihre Möse zu – sans plume, um mit D‘Annunzio zu sprechen (ebenfalls ein Bild, das mich seit meiner späten Kindheit nie verließ).
Aber erst jetzt geschah die Verwandlung, die bereits ein Teil der Vision ist. Nämlich erhob sich, wie eine Insel aufsteigt, wenn ein unterseeischer Ausbruch sie hebt, diese Möse in die Höhe und Weite, wurde wirklich kathedralenhoch, und aus ihr und in sie strömte das Meer. Ich sah Handelsschiffe, Windjammer (die Serie eben, ecco) in sie hinein- und aus ihr herausfahren. Und dort, wo die Organik gotisch ist, die – quasi – kleine Rosette über dem ersten Spitzbogen, doch ein zweiter darüber, den die äußeren Schamlippen formen – dort glitten Wolken unter das Pfortendach. Die Wölbungen der Seitenwände waren nun aber nicht Stein, sondern blieben fleischlich, und, der inneren Labienfeinheit gemäß, wellten gleich hauchdünnen Flossen oder Lamellen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf. Es schien keine Sonne. Die Kathedralenpforte wuchs und wuchs, >>>> l‘origine du monde, doch aufrecht gestellt und immer noch höher und höher. Neue und aberneue Schiffe fuhren hinein und fuhren heraus. Da warf auch ich mich ins Meer, um hindurchzuschwimmen.

Hier nun stockt der Traum, hier wiederholte er wieder und wieder das zugleich bewegte wie stehende Bild, von, wie ich weiterhin glaube, halb sieben bis kurz vor acht. Bis ich endlich aufstand. Benommen, weil ich dachte: Warum bist Du kein Maler?
Spannend, weil nämlich rätselhaft, ist an meinem – na meinetwegen: – Traumgesicht nicht so sehr, Geliebte, das sich in ihm einmal mehr das in mir untergründig ständige Thema von Zeugung und Empfängnis bebildert, das ich ja offenbar aufgeben, von dem ich endlich loslassen muß, sondern daß es gerade k e i n solches war, sondern hier wurde das weibliche Geschlecht zu einem Bild des Austauschs, des Handelsverkehrs, der Infrastruktur, eines, quasi, mundus oeconomicus, dessen Kennzeichen in einem gewissen Maß der Stillstand ist, wenn auch ständig ein bewegter – ein lebendes Kontinuum mithin, das ähnlich wie die ewige Wiederkehr gefaßt ist, aber ohne, daß etwas ginge, verloren würde: – ein nichtentropisches Kontinuum. Vielmehr wie bei Dürer des Wanderers Kopf des Himmelszelt durchstößt, so wollte ich, indem ich ins Meer stieg, offenbar in die ewige Weltmechanik hineinschwimmen, die bei mir und für mich immer Organik ist und bleibt:


>>>> Bildquelle

Aber es blieb bei dem Bild-als-Versuch; ich konnte die Augen so oft schließen, wie ich nur wollte, immer wieder sah ich nur die Mösenkathedrale mit den wellenden, sich gotisch spitzenden Seiten, darein das Meer, darein und daraus die Schiffe, und noch mich selbst, wie ich ins Wasser stieg, um hinschwimmen alleine zu wollen. Noch jetzt steht mir, durchaus wahnhaft, dieses Bild vor den Augen, und immer wieder legen meine Pupillen ihren Kopf in den Nacken.

Was ich sah, mein Herz, ist eine Erscheinung und als solche vielleicht eine Botschaft, von der ich aber fürchte, sie nicht oder nur bruchstückhaft entschlüsseln zu können. Sie wird mich, spüre ich, noch den ganzen Tag über beschäftigen, auch wenn ganz anderes ansteht. Gestern abend kam von meiner Lektorin die nächste Tranche unseres zweiten Traumschiff-Durchgangs, die ich bis halb 23 Uhr bearbeitet habe; für heute erwarte ich eine weitere und will mich ja auch um den Ecker kümmern.
Immerhin strahlt dieser Tag mit einem Licht, das sich nicht anders nennen läßt, als daß es voller Hoffnung sei. Die Vögel, sehr früh morgens, schmettern bereits, und gestern beobachtete ich im zweiten Hinterhof das Elsternpaar, wie es wieder ein Nest baut. Unentwegt zupfelte, zerrte und zog es an reisigartigen Zweigen – nicht leicht für diese vergleichsweise schweren Vögel. Aber sie waren und blieben entschieden, eine Woche vor Frühlingsanfang. Weil aber meine Arbeitswohnung Temperaturen lange hält, kalte wie warme, ist bei mir der Ofen noch an. Dennoch, ich sehe der Freude entgegen, die Kohleeimer und das Heizbesteck und das Schutzblech sehr bald fortzunehmen und in den Keller zu verbringen.

Dir für heute Wohlsein, viel Wissen und noch viel mehr Lust:

Dein
Alban

*

11.40 Uhr



16.17 Uhr


5 thoughts on “Die Mösenkathedrale, das Meer: Vision der Nacht vom 16. auf den 17. März 2015. Untriest 46: Dienstag.

  1. @herbst wg. dürer obgleich ich diese grafik auch immer schon sehr mochte, glaube ich nicht, dass diese grafik von dürer ist… die quelle belegt das auch nicht. manche elemente in dem bild erinnern an dürer, andere passen gar nicht zu ihm (etwa der baum in der bildmitte, aber auch das sphärische himmelszelt hätte er wohl anders gelöst, denn die sterne verflachen nach vorne hin doch ein wenig, und dürer hätte wohl vor allem die räumliche herausforderung gereizt).
    ich versuche mir eben vorzustellen, wie dürer diese idee umgesetzt hätte, wahrscheinlich noch besser…

    1. das ist gar nicht schlimm.

      ihre mösenkathedralenvision, von albrecht dürer als kupferstich umgesetzt, wäre ein anachronismus, der alleine schon die erfindung einer funktionierenden zeitmaschine zwingend rechtfertigen würde.

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