Joachim Zilts’ Verirrungen, 5. Fortsetzung.

Leider hatte ich diesmal die Taschenlampe nicht dabei, sondern nur mein Feuerzeug, das ein mühsam flackerndes, huschendes Licht warf. Zudem ließen mich diese weichen, fast fleischigen Wände zögern, es zu benutzen. Aber ich mußte ja irgendwie etwas sehen. Zumal war es auch unter mir dunkel geworden, meine Mutter hatte längst die Deckenlampe eingeschaltet, deren Stativarme mich immerhin mit einem heimlichen Schatten bedeckten…




Wieder ist draußen der Wärter vorbeigegangen, wieder setze ich die Niederschrift meiner Erinnernungen für einzwei Minuten, die endlos sind, aus. Doch weiter:
… denn mit beginnendem Abend – längst waren in dem Wohnzimmer unten die Lampen eingeschaltet – hatte es auch in den Gängen und Schächten zu dunkeln begonnen. Dieser Wechsel von hell auf dämmrig und dämmrig auf hell ist das einzige Zeichen einer äußeren Existenz, die die Labyrinthe kennen. Jedenfalls habe ich niemals ein anderes beobachten können. In den Sälen herrscht allerdings auch „nachts“ ein mattes, verschleiertes Licht.
Und kaum war ich endlich hinein, trat ich wie auf einen dichten, fast federnden Teppich aus Moos. Es war aber keines, sondern, als ich mich bückte und mit der Hand darüberstrich, blieben kleine Splitterchen, wie von Glasfasern, in der angeschabten Haut. Ich brauchte lange, diese Spitzchen abzustreifen, war noch damit beschäftigt, da raunten gemischte Stimmen durch den Gang. Das hatte etwas von einem fernen Gesang, der in Kathedralen oft auch dann noch zu vernehmen ist, wenn außer einem selbst gar niemand drin ist. Also schritt ich weiter, ob diesen unwahrscheinlichen Sprechchören folgend, ob ihnen entgegen, ich wußte es nicht. Aber kaum war eine halbe Stunde verstrichen, der Boden wurde endlich fester, schon war er wieder mörtliger Stein… – sah ich sie. Es war ein Zug von vielleicht dreißig Leuten, ein paar Schwarze darunter, ich erkannte auch zwei Asiaten, aber die meisten waren Europäer, Amerikaner, das kann ich nicht genau sagen. Die Prozession floß, ohne mich zu beachten, an mir vorbei, vorn aus dem rechten Gang hinaus, durch den Verteilersaal, in einen linken Gang wieder hinein. Einige trugen Kutten wie Mönche, andere waren in Anzüge, Jeans, auch in Regenmäntel gekleidet, leuchtend schwarzer Lack. Alle Leute hatten Taschenlampen in den Händen, die sie wie Kerzen hielten. Und dazu sangen sie oder sprachen, das war nicht zu entscheiden; ich hatte Ähnliches bis dahin nicht gehört. Der Klang war nicht angenehm: sirrend, durcheinanderatmend, furchtbar nervös. Der Zug war derartig gespenstig, daß ich fast wieder den Halt verloren hätte und in einen der direkt vor meinen Füßen senkrecht abführenden Schächte gestürzt wäre. Ich drückte mich an die Seitenwand, wollte die Leute einfach vorüberziehen lassen. Nein, nicht einer schaute zu mir, dabei stand ich ganz offen da.
Das ärgerte mich plötzlich. So daß ich, bevor die ganze Erscheinung irgendwo in der Ferne ihres Ganges verschwand, vorsprang und einen dieser merkwürdigen Menschen an den Schultern faßte. Er blieb bei der Berührung unmittelbar stehen. Er gab keinen Laut von sich. Er wandte sich auch nicht zu mir. Momentlang zögerte ich, vielleicht eine Viertelsekunde, dann gab ich mir den nötigen Ruck und drehte ihn her.
„Wer sind Sie?“ fragte ich.
Er schwieg. Ich kann nicht sagen, daß er mich angesehen hat. Zwar waren seine Augen auf mich gerichtet, doch waren sie leer. Er hatte rein weiße Augäpfel ohne Iris und Pupille. Erschrocken ließ ich ab. Jetzt begann er zu murmeln und wie gezogen weiterzuschreiten, den anderen nach.
Was sollte ich tun? Ebenfalls folgen? Die junge Frau suchen vielleicht, die ich heute vormittag getroffen hatte. Meine Heimatwelt suchen? Ein Netz aus Welten voller Verbindungskanäle, ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Überwand das aber schnell. Es war ein Traum, ganz sicher. Wenn ich die Augen wirklich aufriß, endlich, dann blickte ich ganz sicher zur Schlafzimmerdecke. Ich r i ß sie auf, wirklich. Und sah immer noch das abgebundene Weiß der Wände, den vor lauter indirektem Licht unscharfen Saal, die Gänge, die an den Seiten, im Boden, in der Decke in ihn mündeten. Und mich beschlich die Vorstellung, die leeren Augen des Mannes seien tot gewesen. Doch hatte ich keine Zeit, diesen Gedanken irgendwie zu fassen, denn unmittelbar rief jemand in meinem Rücken: ,,Ach Zilts, da sind Sie ja endlich!”
Ich fuhr herum.
Hinter mir stand Clausnitzer, mein Chef.
„Gott“, sagte er, „wo stecken Sie denn bloß die ganze Zeit? Wir warten schon über eine halbe Stunde auf Sie! – H a b e n Sie den Vorgang?“
Ich brauchte zweidrei Sekunden.
Er zeigte auf die dünne Aktenmappe in meiner Hand. „Ah da“, sagte er. „Prima.“
Ich stand im Archiv des Instituts, in Arbeitskleidung, sogar den Kittel vorgebunden. Und furchtbar schwindlig war mir.
„Fühlen Sie sich nicht gut?“ Er sah mich gar nicht mehr verärgert, sogar leicht besorgt an.
„Doch doch, ich war nur…“
„Ist was mit Ihren Augen?“
„Meinen Augen? Nein. Wieso?“
Er winkte ab. „Dann kommen Sie jetzt bitte.“
Ihm hinterhergehend warf ich einen schnellen Blick zur oberen Wand und erkannte das Loch sofort, durch das ich hinabgefallen war. Offenbar hatte ich mich im Verteilersaal doch nicht mit der nötigen Obacht bewegt. Das mochte angehen, dachte ich, mir ist nichts passiert. Was mich aber erschreckte – vollen Ausmaßes begriff ich es allerdings erst später -, war die Tatsache, daß die Parallelwelten, durch die ich zu, ich muß es so sagen, geistern begonnen hatte, auch zeitlich offenbar nicht aufeinander abgestimmt waren.

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