III, 353 – Himmel : graublau mit Halbmondpuppe im Gewölk

Eigene Vergangenheiten sind immer etwas Gestriges, anders als andere Vergangenheiten, die durchaus aktuell werden können. Denn Eines ist es, meinetwegen den Karl Kraus des Jahres 1899, wie jetzt, zu lesen, ein Anderes, sein eigenes, vom damaligen Jetzt infiziertes Schreiben von vor 13 und mehr Jahren zu sichten. Man begreift nur, daß es gut gewesen, es getan zu haben. Ich warte bei der Durchsicht nur noch darauf, daß es über das Jeweilige Jetzt hinausgeht. Die ersten fünf Monate Blog (einfach unten auf Bruno Lampe klicken) haben’s noch nicht wirklich drin.
Ich fürchte aber, daß das wieder versanden wird, wenn der normale Trott wieder kommt mit seiner Brotarbeit. Wie schon geschehen mit der Durchsicht meiner Tagebücher, die im ‘August-Urlaub’ begann.
Immerhin, ich schlaf’ bis in die Puppen. Für diese Puppen gilt nicht >>> “La puppet qui fait non”. Pas des puppets. Nur zuweilen in der Vorstellung. Je nun, ich komme direkt aus den Seiten, auf denen der eine Carlo bei Pasolini, der sich ein paar Seiten vorher stracks in eine Frau verwandelt, nachdem er am Bahnhof Termini im Jahr 1969 junge, über ihre Körper beschriebene Arbeiter auf Lastwagen hat vorbeifahren sehen, die ein rotes Tuch um den Hals trugen und Partisanengesänge von sich gaben, jungen Heranwachsenden auf einer Wiese bei Rom reihenweise seinen Mund darbietet und dabei minutiös das jeweilige Geschlecht und die Art beschreibt, wie jeweils die Schüchternheit zum Ausdruck kommt und überwunden wird.
Mit Batailles ‘Ciel bleu’, den ich heute ausgelesen, konnte ich weniger anfangen. Morbide Schmerz- und Krankheitszustände, viele Tränen, am Ende eine furiose Vereinigung im Schlamm bei Trier am Rande eines Abgrunds, der wie mit Sternen von den Lichtern eines Friedhofs besät ist, der am Grunde des Abgrunds liegt. Vom Alkohol ganz zu schweigen. Von London geht es in ein Wien, in dem gerade Dollfuß ermordet wurde, in ein Barcelona, wo sich Bürgerkrieg ankündigt und ausbricht, um zu enden in Frankfurt und mit dem faszinierten Anhören von Hitler-Pimpfen, die vor dem Bahnhof trommeln und pfeifen. Und damit alles schon vorwegnehmen.
Vorgestern lud mich die Ex-Schwägerin zum Mittagessen ein. Weihnachten geht das immer schlecht, da kommt nämlich an Heiligabend die Ex zur ihr, und sie mit den Neffen ist dann am Weihnachtstag bei der Ex. Immerhin kam mich am Tag davor der eine Neffe (was man so Nenn-Neffe und Nenn-Onkel nennt) vorbei: Gute Wünsche und Erkundigung nach meinem Ergehen.
Die Ex-Schwägerin hatte während des Films ‘Cuori puri’, den ich jüngst erwähnte und verärgert verlassen hatte, neben mir gesessen. Erzählte mir dann die zweite Hälfte des Films: da die kirchlich angehauchte Mutter des Mädchens dito auf Keuschheit vor der Ehe versessen war (sie mit ihr sogar zum Gynäkologen gegangen, um sich ein intaktes Hymen bestätigten zu lassen), hatte das Mädchen ein Problem, weil der Freund eben doch wollte. Und sie dann nur auf sich selbst horchte, passierte es halt. Wie es aber der Mutter beibringen? Bis ihr dann einfiel zu sagen, einer der Zigeuner habe sie vergewaltigt.
Meine “hm’s” blieben. Was klagt ein solcher Film an? Die Rückständigkeit der Italiener? Die falsche Humanität den Zigeunern gegenüber? Die Probleme, sich mit irgendwas über Wasser zu halten? Also eher ein essayistischer Film, der hier ein Stückchen, da ein Stückchen anschneidet, ohne auf den Punkt zu kommen? Daß das Leben eine Heuchelei. Und Altruismus, wie er betrieben wird, mitnichten auf Menschenliebe basiert, sondern immer nur sich selbst feiert. Denn anders wäre es wohl nicht möglich, einen Zigeuner anzuklagen für das, was einem als Schuldempfindung eingeimpft wurde. Der Zigeuner ist der, der auf einer niedrigeren Stufe steht. Dem so etwas zuzutrauen ist.
An den bemerkte ich unwillkürlich eine Art Wachstum. Wie das? Ich fragte danach, da sie ja nun aus dem Wachstumsalter heraus sind. Die Oberkörper irgendwie mächtiger. Kunststück: Fitness-Center. Gewichte stemmen. Tatsächlich fragte mich der mich besuchende Neffe, ob ich nicht Gefallen daran finden könne, mich körperlich zu betätigen. Ich zuckte aber nur mit meinen schmächtigen Achseln. Nicht unbedingt. Und dachte an das Schieben des Rasenmähers damals auf dem Lande und wie ich ihn bergauf stemmte und bergab zu halten versuchte.
Am selben Tag, als der Neffe kam, es war schon dunkel, kam der >>> Schönwetterbauer, mein hiesiger Vormieter (einst nannte ich ihn im Tagebuch als MM oder apostrophierte ihn als ‘Gärtner’), vorbei mit seiner neuen Frau, einer Japanerin. Er sagte, ich solle mal “Menschen und Märkte” in die Suchmaske eingeben. Ich tat’s. Nehme an, daß ich morgen dann den Sylvesterabend bei Tullia verbringen werde, wo die beiden untergebracht sind. Er verhieß eine Carbonara. Binnich, als Carbonara-Experte, kritik-süchtig allerdings gespannt.
Guten Rutsch!

 

Am Ende der schneeweißen neuen Brücke über den Tiber,
fertig gebaut von den Katholiken, um die Faschisten nicht Lügen zu strafen,
zwischen Friesen, Säulenstümpfen, falschen Fragmenten, unechten Ruinen
eine Gruppe von Frauen, die in der Sonne auf Kunden wartete.
Darunter auch Franca, eine, die aus Viterbo hierher gekommen war,
ein Mädchen, aber schon Mutter, die war am schnellsten:
lief rufend zur Tür meines Autos
so selbstsicher, daß ich sie nicht mehr enttäuschen konnte:
stieg ein, machte es sich bequem, fröhlich wie ein Junge,
und führte mich Richtung Via Cassia: bogen dann ab und
fuhren auf einer verlassenen Straße unter der Sonne
zwischen Gipsbaustellen und tripolitanischen Häuschen
und gelangten zu ihrem Platz: eine kleine Wiese
unterhalb einer Anhöhe mit Moosflechten und Grotten.
Ein altes braunes Pferd weiter hinten im feuchten Gras,
ein leeres Auto inmitten der Büsche
und nicht weit : hier und dort das Echo festlicher Böller:
rings herum war es voller Paare, junge und arme Leute.
In jenen Tagen waren mein Leben, meine Arbeit angefüllt,
keine Unausgeglichenheit, keine Angst bedrohte mich:
jahrelang war ich vorangekommen, zunächst durch die Gnade des Körpers,
– Sanftmut, Gesundheit und Begeisterung, die mir die Geburt gab,
dann durch ein Licht des Denkens, wenngleich noch unsicher,
– Liebe, Kraft und Bewußtsein, die ich mir im Leben erwarb.
Und doch, erstes und einziges ungeborenes Kind, es schmerzt mich nicht,
daß du niemals hier sein kannst, auf dieser Welt.

Pier Paolo Pasolini, A un figlio non nato

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .