[Arbeitswohnung. Boris Blacher, erstes Klavierkonzert.]
Das durchdrang mich, durchflutete mich, nachts, gestern, als ich, den Alkohol in den Waden, nach >>>> der Lesung durchs Schneetreiben heimfuhr, das dessen Auffluß in den Kopf deutlich moderierte, Drainagen der Bewegung legend, so daß er unten, der Alkohol, über den Fersenknöcheln, auszulaufen schien. Nichtsdestotrotz hätte ich, behauptete die Löwin, die ich noch anrief, als ich heimgekommen, auch schon entkleidet war und im Bett lag, ein Lallen in der Stimme, wie oft nur jenen kenntlich, vielleicht, die mich kennten.
Ich mochte nicht darüber diskutieren, konnte es wohl auch nicht, aber bin nun seit so lange Zeit wieder frühe auf, wie‘s sich gehört und kann es wieder schreiben: Latte macchiato, erste Morgenpfeife.
Doch was mich durchdrang.
Nicht nur das Märchen der 672. Nacht. Dieses aber auch:
Der Damensalon hatte noch geschlossen. Ein einsamer junger Mann polierte, sah ich durch die Scheibe, die Theke, sah auf mein Klopfen auf, schien irritiert zu sein, doch ließ von seinem Tun schon ab, einem eher meditativen denn zweckorientierten. Und öffnete mir. Ich hatte aber auf dem Schild schon lesen können, das bereits hinausgestellt war: Lesung, 21 Uhr. Kreide auf hüfthohem Wandtafelgestellchen. Keine Namen, nur diese drei Begriffe, wobei ich mir jetzt – es mag an der Frühe liegen – gar nicht sicher bin, ob sich „21“ ein Begriff nennen läßt. Mit dem Raum-selbst als Zeugen sagte der junge Mann, es sei noch niemand da außer ihm und, sagte ich, außer mir, und ließ mir einen Laphroiag geben. Ich hatte eine Stunde Lesezeit für Hofmannsthal gewonnen. EBook-Leser sind grandios, ich meine die Geräte. Nur genügend Rauchzeug hatt‘ ich nicht dabei, für so viel Zeit.
Eine halbe Stunde später kam Romina Voigt mit ihrem, hätte man früher gesagt, Verlobten, noch später der verirrte, straßengeographisch, Moritz Gause, den Mischa Mangel hatte navigiert. Mobilchen, ich meine die Geräte, sind grandios. Bevor es sie gab, wären so verirrte Leute in den Winkeln dieser Stadt, namentlich Neuköllns, auf viele Jahre verschollen gegangen, vielleicht von Piraten beraubt und niedergeschlagen oder, wenn die freundschaftlich gestimmt und nicht eine spätere Wiedererkennung befürchtend, an irgend einer Gasse ausgesetzt worden, wo sie dann jahrelang auf ihren Freitag warten müssen, um ihm die Menschenfresserei christlich zu vermiesen. Ich mußte, aber der Piraten wegen, an die schwarzen Dealer denken, denn auch die, wie ich erzählte, waren freundlich gewesen, freundschaftlich beinah, muß ich sagen, trotz der Kürze unsres sich treffenden Blick. Und da waren denn die Zeilen wieder, so daß ich sie – „‘tschuldigt mal eben“ – hinnotieren konnte:
du begehrst, da dir die Brust
sich spitzt zur Lust,
in ganzem Ausmaß geben
wenn du dich beugst.
Wir entschlossen uns, Voigt, Gause und ich, nicht in 20-Minuten-Blöcken nacheinander zu lesen, sondern, da wir alle Lust auf eine „reine“ Lyriklesung hatten, die Veranstaltung wie einen Jam anzulegen, zu musizieren also miteinander, und das funktionierte prächtig, wie wir am Publikum merkten, das in dem kleinen Raum angemessener Zahl erschienen war, freilich auch nach Gästeliste, was bei 3 Euro Eintritt nicht ohne kleinliche Bizarrerie ist. Aber sei‘s drum: auch eben deshalb wurde ich später derart geflutet. Da Bücher verkauft wurden, ging der Abend für mich mit fünfundfünfzig Euro aus; dächte man sich da die Steuer hinzu, liegt man bei etwas unter achtzig; das ist schon ganz in Ordnung. Es wurden keine Quittungen unterschrieben, geschweige denn hinübergereicht. Fünfundvierzig Euronen Eintrittsgelder, rechnen Sie die durch drei, und Sie haben die Anzahl der zahlenden Gäste; deren doppelte, ungefähr, war da. Kamen auf jeden von uns zehn, darinnen jeweils fünf frei.
Kam aber nicht drauf an.
Denn das, als ich durchs Schneetreiben heimradelte, dennoch mit betörendem Blick über die Spree und weithin dann den vereisten Regenwald der Gleise, einer wahrlich Tundra, die zum Bahnhof, dem des Ostens, führt, und den ganzen Ring hinauf ins Prenzlauer Gebirge, – das, was mich da durchflutete, war ein berauschendes Pathos, das eigentlich nichts als ein Satz war: „Dafür sind wir auf der Welt, die Kultur zu bereichern.“ Wir täten es nicht, dachte ich, dächten wir an Einkunft. Alles Gerechne, Lebensgerechne, daß Arbeit angemessen entlohnt werden müsse usw., geht davor in die Knie, vor diesem Anspruch und seiner Erfüllung in späteren Generationen. Und wenn man uns die Ohren wegpfändet, selbst, gäbe es noch den Schuldturm, aber all die klüglichen Warnungen und Erwartungen mehr oder minder gewerkschaftlicher Natur kriegen von der Kunst was aufs Maul. Denn wenn der Typ auch verschuldet war und sich schuldig fühlen soll, – von ihm (oder ihr) und n i c h t von seinen (ihren) Gläubigern lädt sich eines Tages ein Mensch Gedichte auf das Lesegerät; da ist der Mensch, der‘s schrieb, längst tot, und er, der Lesende, beginnt zu hören:
Früchte spiegelnd ohne Ende
In den alterslosen Seen.
Marmorstirn und Brunnenrand
Steigt aus blumigem Gelände,
und die leichten Winde wehn.
Hugo v. Hofmannsthal
Reiselied auf dem eKindle
Glücklich war ich, als ich heimkam, voller Zuversicht; und ein bißchen betrunken. Ich sprach am Telefon noch mit der Löwin, im Dunkeln, nackt und nur halb zugedeckt, die linke Hand auf den Hoden, die rechte hielt den Hörer, und weit, weit, sehr weit war das Oberlicht in die kalte Nacht geöffnet. Die wehte kalt zu mir herein und trug ihren warmen Schlaf in die Höhle meines Betts.
Ich schreib jetzt das Gedicht zuende, bevor ich wieder an die Hörstückarbeit gehe.
Zweiter Latte macchiato. Zweite Morgenpfeife.
@Haschemänner Hatte „neulich“ auch so ein Erlebnis, dass die „Dealer“ nicht nur mit ihrem Kraut handeln, sondern auch mit Verseinflüsterungen, mögen meine Dealer auch Ungelenkeres eingeben als Ihre, was daran liegen mag, dass Kiel eben nicht Hauptstadt ist und einen wenn auch kleinen, so doch funktionierenden „Flughafen“ hat 😉 http://www.schwungkunst.de/wordpress/?p=2503