Plötzlich ein Brausen vom Himmel ODER Der erste Tag der Fünfzig. Das Arbeitsjournal des 27. Mais 2012. Darinnen der Herausgeber sich schuldig zu machen dabei ist : Entscheidungen treffen. Und nachts nach dem Festmahl: Sandrine Piau.

10.50 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Momentan lasse ich mich schlafen, wie Es schlafen will. Um halb acht auf, an den Schreibtisch, Argo bis 596; insgesamt komme ich sehr viel zügiger voran, als ich projektiert habe. Das beruhigt durchaus. Allerdings fürchte ich, daß mich, sozusagen ausgleichshalber, die Übertragung der handschriftlichen Korrekturen mehr Zeit als veranschlagt „kosten“ wird.
Ich träume mal wieder wild; lag aber auch an zwei Pornos, die ich gestern nacht noch sah: intensive Szenen, die zumindest den Eindruck vermittelten, hier sei wirklich Sucht im Spiel. Sowie es glatt, zu routiniert, sozusagen clean wird, schalte ich aus. (Je älter ich werde, um so mehr interessieren mich, als Geschlechtspartnerinnen, nur noch auf Sexualität versessene, von ihr besessene Frauen; alles andere kommt mir schal vor, lebensernüchtert, resigniert.)
Und wie zu Beginn eines jeden Feiertags schlage ich seine Bedeutung nach, lese über Quellen, will wissen, was eigentlich und was wurde, woran mich vor allem interessiert, was werden könnte, was, also, bewahrenswert, ja – nötig ist. Ich habe einen enormen Widerstandswillen gegen Profanierung, bei jedem Fest kommt er heraus.


Πεντάγραμμος: Der >>>> Fünfzigste Tag:
Und es soll geschehen in den letzten Tagen,
spricht Gott, ich will ausgießen von meinem
Geist auf alles Fleisch.

Aber auch
>>>>שבועות.
In diesem Fall: die Fünfzig. Das hängt auch direkt in meiner Arbeit an Anderswelt III: die Argo ist ein Fünfzigruderer; fünfzig Argonauten brechen auf, schließlich, am Ende der Romantrilogie, nicht alle sind Menschen und nicht alle auf See, außerhalb der künstlichen, d.h. simulativen Zivilisation Europas, lebensfähig, jedenfalls nur, solange die Energievorräte reichen, die in Batterien gespeichert sind. Etwa die Hälfte aller, die aufbrechen, fahren in ihren Tod – für andere. Sie entscheiden sich bewußt. Wie Meerschaum, schreibt Hans Christian Andersen, sei Dorata vergangen, Dolly II, die von Kalle Kühnen, den Taxifahrer, nicht mehr lassen möchte; so liebt sie ihn, den einfachen, ein bißchen groben herzguten Mann. John Broglier sieht und verzeiht.
Das wird in den Epilog gehören, der noch nicht geschrieben ist.

Wie rasend glühen meine Pfingstrosen hier, immer wieder seh ich ungläubig hin. Hübsch ist etwa, was bisweilen der Aberglaube aus dem Pfingstfest gemacht hat. An der oberen Mühle der Thale ertrinkt jedesmal zu Pfingsten ein Kind, wenn nicht ein Huhn, ein Hund oder eine Katze in die Bode geworfen werden. Geister- und Spukerscheinungen werden sichtbar“ (Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. 6, Berlin & New York 1987). Lange, bis in die Neuzeit, haben die alten Götter sich der Ausgießung des Einen Einzigen Geistes erwehrt: Am Pfingstsonntag geht >>>> die Wilde Jagd um. Auf der Feste Koburg zeigt sich in der Frühe des Pfingsttages ein dreijähriges Kind mit blutigen Schläfen in weißem Hemde, mit einem Zweige weißer Holunderblüten; von dem „verwünschten Holunder“ schreibt Ranke-Graves und spricht an anderer Stelle davon, daß er „geheimnisvoll“ sei. So führen die Spuren tief hinab in das, was Thomas Mann in seinem wahrscheinlich größten Buch den „Brunnen der Vergangenheit“ nennt, den wir, die Heutigen, zuzuschütten dabei sind und zu planieren, damit die Welt verfügbar werde, wie der, der sich heute auszuschütten dabei ist, es als Auftrag gab. Das wäre ein mythologischer Regelkreis.
In dieser Weise meditiere ich vor mich hin, und immer sind die Ideen nahe, so etwas in meine Bücher einzuflößen: stille Botschaften, von denen ich hoffe, daß sie, auch wenn man sie nicht merkt, wirken.

Nach dem Celloüben gehe ich >>>> ans Hörstück; die letzten Revisionen. Und abends wird gekocht; die ganze Familie wird herkommen, und wir werden unter den glühenden Pfingstrosen sitzen um den Mitteltisch herum, Fische und Crevetten essen und Salat. Die Küche, nachher, wird aussehn wie Sau.
Außerdem muß ich >>>> für Irsee meine Entscheidungen treffen; das ist nur in einem Fall schwierig. Ich habe eine Autorin dabei, deren Text nicht auf der Höhe der meisten anderen ist, literarisch; aber ich habe das Gefühl, dieses Seminar sei für sie besonders wichtig. Sie bearbeitet eine schwere Krebserkrankung, das Thema ist grundsätzlich von Bedeutung; ich möchte ihr Hinweise geben, sie auch mit dem Umstand wenigstens vertraut machen, daß, wenn man etwas poetisch verarbeitet, dieses, egal was, zu Handwerksmaterial wird – wir erreichen hier Nähe durch Distanz. Entscheide ich mich aber für sie, muß ich mich gegen jemanden entscheiden, deren, bzw. dessen eingereichter Text literarisch besser ist als ihrer. Wie ich mich auch entscheide, es wird ungerecht sein. Es ist dies eine Grundkondition unseres Lebens: man muß sich schuldig machen wollen, sagen: „Ich nehme es auf mich.“ Womit wir, indirekt, beim Nazarener wären, der es – als allgemeinen, also abstrakten Akt – vor fünfzig Tagen versucht hat; der Überlieferung nach liegt das 1999 Jahre und 344 Tage zurück. Tief ist der Brunnen. „Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben darum, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt und des Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und das O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht.“

(Thomas Mann, Die Geschichten Jaakobs, Vorspiel: Höllenfahrt).

19.20 Uhr:
[Vivaldi, In fuore, laudate pueri.]
Den Endschnitt des Hörstücks fertig bekommen, gemischt und eine mp3 meiner Redakteuerin in die Dropbox getan. Die kleine Kürzung war weniger kompliziert als befürchtet.
Nun koche ich bereits seit anderthalb Stunden und warte auf die Familie, die sich offenbar verspätet. Gut, daß ich noch etwas damit gewartet habe, die Barsche in den Backofen zu tun.

Meine Pfingstrosen sind geradezu unheimlich; ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Jetzt gehen auch bereits die weißen mit den roten Rändern auf, strotzend, gierig auf Leben. Wir bekommen einander gut.

*****

(„Vorher“/“Nachher“ wollte ich einstellen, vergaß das Nachher aber; so nun eine Collage aus vorher und dabei:)

22.40 Uhr:
[Als Formklammer der kulinarischen Abends: Vivaldi, In fuore, laudate pueri zum zweiten.]
Nun sind sie alle wieder fort – und das Tollste: ich habe die Küche schon wieder klarschiff. Da steht man dann morgens g e r n e auf, wenn einen nicht das Chaos erwartet. Und lädt auch gerne wieder ein. Vor allem: setzt sich gerne morgens wieder an den Schreibtisch.
Abendpfeife, mein >>>> Haustabak. Nach dem Essen Espresso und einen Cigarillo. Dann die ganze Bagage nach Hause Ans Terrarium gebracht und zurück mit dem Rad. Gleich an die Küche. Und jetzt schau ich mal, ob die Dropbox für meine Redakteuerin alles fein hochgeladen hat. Vielleicht noch etwas lesen jetzt, Musik hören, und vielleicht meldet sich ja die Löwin auch noch mal. Arbeiten werde ich jetzt nicht mehr.
Großartig waren die Wolfsbarsche, waren die Crevettes. Ein halber Barsch ist übriggeblieben; er zwinkerte mir für morgen zu. Und die Pfingstrosen glühen auf dem wieder für das Werk bereiteten Mitteltisch; den weißroten kann man beim Aufblühen zusehen. „Sexualität“, sage ich meinem Sohn, „das ist die pure Sexualität. Nur daß die meisten Menschen, die Blumen lieben, genau das aus ihrem Bewußtsein verdrängen. Aber sieh dir diese Geilheit an!“

Und könnten Sie doch diese S t i m m e hören! >>>> Sandrine Piau:

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