Nach der Vergana der Jakobsweg: Santiago di Compostela. Meine Seeabenteuer (9). Des alten Jim Hawkins’ Reisejournal des Sonntags, dem 15. Mai 2011.

10.13 Uhr:
[Raucherdeck.]
Wir hatten eine sanfte schwere See, Windstärke 7, die Wellen maßen an die drei Meter. Das Schiff wankte, man ließ das Wasser aus dem Swinningpool, Stühle flogen, drinnen war Ball. Ich las vor ungefähr zehn, vielleicht auch fünfzehn Personen; ein Wagnis, hatte ich gedacht, daß die Vergana sei… hier. War es nicht. Wer da war, war konzentriert. Aber die Sehnsüchte der meisten Passagiere zielen auf andres – nicht einmal so sehr auf den Ball, von dem man verstehen kann, daß Eheleute, die lange nicht mehr getanzt hatten, den Tanz nun nicht unterbrechen wollten für eine Kultur, sondern – wie die Kaninchen vor der Schlange starrte man auf dem oberen Deck auf einen Fernsehprojektor und sah den Unerträglichkeiten eines Schlager-Contests zu, als handelte es sich um Verheißungen. Stewards, die freihatten, Stewardessen, die freihatten, allesie einträchtig mit älteren Gästen, zweidrei Stunden lang, vielleicht länger. Ich war nicht einmal fassungslos, als ich das nach meiner Lesung sah. Die selbstverständlich irritierte: War das autobiographisch nicht d o c h? Wobei, mir selbst überraschend, ich plötzlich begriff, als die Frage nach der Moral aufgekommen, in welch naher christlicher Tradition meine Erzählung steht. Ich habe das nicht gewußt, als ich sie vor kanpp sechs Jahren schrieb, ja, bis gestern abend sogar wußte ich es nicht.
Das aber ist ein anderes Kapitel.
Oder nein, ist es nicht. Denn heute legen wir in Villagarcia an und nehmen von dort einen Bus ins spanische Herz der Wallfahrtstätten. Ich lese Torrente Ballesters schönes Buch, das dank einer Initiative der Universität Kiel ins Deutsche gebracht worden ist.Betrachtet, was ihr seht, einfach als ein Geschenk der Engel. Und wenn der Betrachter Protestant ist und nicht an Engel glaubt – Compostela wird er gläubig wieder verlassen -, dann sollte er die Stadt für ein Geschenk der Feen halten, so er an Feen glaubt. Und wenn er auch das nicht tut, mag sie ihm als Geschenk des Geistes erscheinen, an den sich seine Seele klammert, um nicht den Verstand zu verlieren. Nur wenn er nicht einmal an den Geist glaubt, sollte er sich an die Wissenschaft halten. Aber dann wird er die Compostela niemals verstehen.

So auch gehen die Menschen hindurch und an den Wundern vorbei: Nicht das Wunder berührt sie, sondern die Superlative, und auch sie berührt sie nicht wirklich, sondern sie dient als Objekt, als Bild-Vorlage, für die Erinnerungsalben. Hier war ich auch. Und sehen nicht in die Tiefen dahinter.
Das mag eine halbbewußte Entscheidung sein: damit uns nicht schwindelig werde. Tief ist der Brunnen der Vergangenheit (Th. Mann); die Vorstellung, da hineinzufallen, ist so schaurig wie der Gedanke an den eigenen Tod. Hiergegen hat die Menschheit Schlager-Contests erfunden und flache Geschöpfe wie Lena, für die der Gütige freilich alles Mitleid der Welt hat. Denn auch sie ist Organ und Gefühl und Empfindung. Die meisten Menschen sind einfach. So war auch Jakob, der Apostel, den die Spanier Iago nannten: von daher Sant-Iago. Er hätte, nehme ich an, die Menschen verstanden, die heute an seinem Grab stehen werden – Compostela-als-Stadt ist ein Grab-als-Vermächtnis – und es, wahrscheinlich, gar nicht begreifen werden können.Vergeßt nicht: Einzig diejenigen, die sich die Fähigkeit zu staunen bewahrt haben, finden den Weg in die Stadt.

Wir haben eine Schlaufe gefahren und nehmen seit frühmorgens wieder Kurs auf den Süden. Gegen zwölf Uhr werden wir Villagarcia erreichen.

23.05 Uhr:
Rauhe See. Die Biskaya zieht uns in sich hinein. Ein Tief liege drüber, hörte ich bereits gestern. Was den Ausflug nach Santiago di Compostela anbelangt, so ist da – nichts. Und was vielleicht einmal dort war, ist von den Touristenströmen zerstört, doch nicht nur durch sie: auch die durchaus nicht schönen Neubauten umher sind wie ein Schutzwall gegen Mystik. Und die romanische Schönheit ist schon vordem vom Barock zerstört worden: was einmal lichtdurchflutet gewesen ist, liegt nun der Anbauten wegen in grauem Dämmern. Dazu kommt, daß die Kirche selbst die Riten maßregelt: über Hunderte von Jahren legten die Pilger die fünf Finger einer Hand auf den Grund der Mittelsäule; nun wird das nicht mehr gerne gesehen, weil es den Verdacht des Götzendienstes schüre. Also hat man die Säule mit einem massiven Metallgeländer abgesperrt. Und was ein Übrigens anbelangt, so bin ich entschieden dafür, in Kirchen ein Fotografieverbot zu erlassen und das auch hart durchzusetzen; die Leute halten sich ja nicht einmal daran, auf Blitzlich zu verzichten.
Ernüchternd das alles.

Nicht ernüchternd aber jetzt die See. Wir rollen und stampfen, die Gischt schießt hoch bis übers vierte Oberdeck. Ich sah eine Zeit lang der nächsten Show in der Astorlounge zu und wie sich die Tänzer mühten. Dann tat es einen Schlag, und mit irrem Lärm krachte eine der Kulissen um, knapp einen halben Zentimeter vor einer der Tänzerinnen.Im Nu war auch die andere Kulissenseite abgebaut, dann machten die Akrobaten weiter. Hut ab.
Aber mich hielt’s nicht, trotz der wirklich schönen Olga. Mich zog es hinaus. Also in die Kabine, festes Schuhwerk an, zwei Schals, Lederjacke; das Leinenjackett blieb draußen an meinem provisorischen Arbeitsplatz in der Innengalerie des Promenadendecks.
Hinaus und gegen den Wind gestemmt, die Hand entweder an der Reling oder an den Handläufen, die in die Schiffswände eingelassen sind. Hoch spritzte ein Gischtbrecher. Der Wind heulte nicht, nein, schrie in den Radaraufbauten. Da reißen mich zwei der philippinischen Matrosen zurück: ich solle reingehen, Captain’s Order: Verbot, die Außendecks an Steuerbord zu betreten.
Sämtliche Geländer Innenschiffs sind unterdessen mit Papiertüten bespickt, für die Notfälle. Also backbords wieder hinaus, bis ich naß bin und doch etwas fröstle. Dreimal schreie ich vor Lust ins Meer. Dann fällt mir ein, daß ich Ihnen nochmal schreiben mußte. Was ich hiermit tue.
Wie es morgen mit der Internetverbindung bestellt sein wird, ist nicht zu sagen: Wir haben den zweiten See-Tag vor uns, und wenn wir die Biskaya queren, zumal bei diesem Wetter, ist weder zu sagen, ob die Satellitenverbindung stabil sein, noch auch, ob es Empfang für die mobilen Telefone geben wird.
Die meisten Passagiere sind unterdessen in ihre Quartiere gezogen. Ich hingegen will noch aufbleiben und umherstreunen. Das Wasser klatscht gegen die Scheiben, hier oben sogar.

3 thoughts on “Nach der Vergana der Jakobsweg: Santiago di Compostela. Meine Seeabenteuer (9). Des alten Jim Hawkins’ Reisejournal des Sonntags, dem 15. Mai 2011.

  1. Martin Luther meinte dazu: Wie er in Hispaniam kommen ist gen Compostel, da die gross walfahrt hin ist, da haben wir nu nichts gewiss von dem: etlich sagen, er lig in Frankreich zu Thalosa, aber sy seind jrer sach auch nit gewiss. Darumb lass man sy ligen und lauff nit dahin, dann man waisst nit ob sant Jacob oder ain todter hund oder ein todts ross da liegt,… lass raisen wer da wil, bleib du dahaim.

  2. Sehen Sie, lieber ANH, eben dies meinte ich, als ich in einem Kommentar zu ihrer letztjährigen Italienreise das Drauflosfotografieren kritisierte: “So auch gehen die Menschen hindurch und an den Wundern vorbei: Nicht das Wunder berührt sie, sondern die Superlative, und auch sie berührt sie nicht wirklich, sondern sie dient als Objekt, als Bild-Vorlage, für die Erinnerungsalben. Hier war ich auch. Und sehen nicht in die Tiefen dahinter.” Manchmal ist es ja tatsächlich geradezu verstörend, dieses Touristentreiben (auch in Berlin) zu sehen, das Knipsen, das Bilderschildchenansehen in den Museen, statt die Gemälde auf sich wirken zu lassen und so weiter. Wie anders Ihr Blick! Und wie schön ihre Photographien, vor allem die aus Porto.

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