Ritualmord am Oberhirten. Ildebrando Pizzettis Murder in the Cathedral nach T.S.Eliot an der Oper Frankfurt am Main.

Thomas Stearns Eliot konnte den Inhalt seines Versdramas „Murder in the Cathedral“ kurz fassen: „Ein Mann kehrt nach Hause zurück, vorausahnend, daß man ihn ermorden wird, und er wird ermordet.“ – Man könnte es damit gut sein lassen, wenn dieser Mann nicht der Erzbischof von Canterbury gewesen wäre und seine Mörder nicht im mittelbaren Auftrag des Königs von England gehandelt hätten. Die wahre Begebenheit, die den durchs ganze Mittelalter tobenden Machtkampf der weltlichen Herrscher mit dem Papst spiegelt, weist mehr historische Denkwürdigkeiten auf, als T.S.Eliot für sein Märtyrerdrama, das er im Auftrag der Canterbury-Festspiele 1935 verfaßte, verwenden wollte. Der in St. Louis, Missouri, geborene Eliot hatte 1922 die englische Staatbürgerschaft angenommen und war in die Kirche von England eingetreten. Wir können davon ausgehen, daß er ein gläubiger Mensch war, der in Glaubensdingen nicht mit sich spaßen ließ. Wenn er also seinen Erzbischof nach dessen siebenjährigem französischen Exil nach Canterbury zurückkehren läßt, um dort mit Todesahnungen das Primat der Kirche über die Kompetenz der Krone zu verfechten, ist die Botschaft nicht zu übersehen, da hilft auch die vierfache, dem älteren geistlichen Drama entlehnte, Versuchung nicht, die statische Geradlinigkeit des Priesters zu gefährden. Die reflexive Poesie allein trägt das Drama. Die Zeitumstände – der Fascismo und der Faschismus hatten das politische Klima in ganz Europa verändert – verhalfen dem Werk zu raschem Erfolg.
Der italienische Komponist Ildebrando Pizzetti, Jahrgang 1880, also Zeitgenosse Respighis, Malipieros und Casellas, sah darin einen >>>> Opernstoff, der seinen eigenen Intentionen entgegenkam. Das waren die Gegnerschaft zum Verismo, besonders aber zu Puccini; die Liebe zu Verdi, den er selbst noch erleben durfte, und die Neigung, mit Berufung auf Monteverdis seconda prattica, den rezitativischen Stil zur musikalischen Basis dramatischer Werke zu machen. Als Pizzetti in ein Buch über die Schöpfer der Neuen Musik – es gibt darin Photographien, auf denen er sich seine große Tabakspfeife in den Mund hält – aufgenommen wurde, konnten selbst seine Bewunderer ihre Ratlosigkeit nicht verhehlen. Der Italiener lehnte die Zweite Wiener Schule ab, aber auch die expressiven Exzesse, die die Spätromantik, in der er zuhause war, bereit hielt: ein Komponist zwischen allen musikhistorischen Positionen also, der allein insgesamt 13 Opern komponierte und sich als Hochschullehrer einen Namen machte. Die in jeder Hinsicht erste Aufführung seines „Assassinio nella cattedrale“ in Frankfurt ließ instrumentale Motivketten hören, auf denen der Konversationston der Protagonisten balancierte. Pizzetti hält sich im Bereich einer sich auflösenden Tonalität auf, läßt in den kurzen Steigerungsphasen chromatische Sequenzen aufsteigen, um sie dann – vor allem bei Szenenschlüssen – in traditionellen Kadenzen zu befrieden. Zu Beginn stehen drei Weihnachtsbäume an der Rampe, die in der Folge geschmückt und weggeworfen werden. Eine mittelgroße, perspektivisch sich verengende Halle (Bühnenbild: Tilo Steffens) beherbergt den Frauenchor, dem der Komponist qualitativ und quantitativ über die 90minütige Spieldauer hinweg Enormes abverlangt. Vorne senkt sich von rechts oben ein Fallreep herab, auf dem der Erzbischof Thomas Becket mit seinem Koffer dieses Kirchenschiff betritt und sich auf einem Kubus aus Holzpaletten erst einmal ausschläft. Der Frauenchor – Männer werden alsbald durchs linke Fenster eingelassen – verkündet nicht antik-statuarisch Spruchweisheiten, sondern verkörpert die Emotionen der Canterbury-Gemeinde: die Sehnsucht nach dem Oberhirten, die Freude des Wiedersehens, die sich mit der Angst um seine gefährdete Anwesenheit und der Furcht vor kommender Gewalt mischt.
Für die zentrale Figur, den Erzbischof Thomas Becket, ist der Brite Sir John Tomlinson wie geschaffen. Allein seine patriarchalische Gestalt, sein weißes lang wallendes Haupthaar und sein ebenso weißer Bart sind szenisch dominant. Sein raumfüllender Bariton aber macht ihn erst zum unabhängigen Charakter und hegemonialen Kleriker, der sein Leben der Kirchenmacht unterwirft und opfert. In Anwesenheit seiner Versucher – der Jugendfreund, der ihn im Clownskostüm zu den Freuden des Lebens bekehren will; eine Königsstatue, die ihm weltliche Macht verspricht; sein Ebenbild mit Kompromissangeboten und der unwiderstehlichste Versucher: der Gekreuzigte, der ihm die Gloriole des Märtyrertodes verheißt – hält sich Becket zwar zuweilen Ohren und Augen zu, läßt sich mit den Phantomen aber gar nicht erst ein. Nur im Fall der Verlockung durch den Märtyrertod braucht er etwas, um sich zur Einsicht durchzuringen, daß er selbst sich nur aus egoistischen Motiven dafür entscheiden könnte. Die ganze Verführungssequenz ist wunderbar überzeichnet (Kostüme: Julia Müer) und – wie später das riesige, rote, Kunststoffherz, das in einer Vitrine an der Bühnenrückwand pulsierte – theatralisch überhöht.
Es mag eine ungewöhnliche Entscheidung sein, die italienische Oper, die im englischen Milieu (die Kostüme weisen auf den Ersten Weltkrieg) spielt, auch im englische Original singen zu lassen. Sie ist dem Ganzen aber nicht abträglich und verleiht ihm einen Hauch von Dramatik. Im zweiten Teil, der mit dem solistischen Englisch Horn (!: Dieses „englisch“ kommt allerdings von ‚angle“= Winkel) beginnt, brechen die vier Ritter des Königs (Beau Gibson, Simon Bailey, Brett Carter und Magnus Baldvinsson, die schon als Versucher Dienst taten) im senffarbenen Kostüm durch die Rückwand, bezichtigen den Erzbischof des Verrats und versprechen wiederzukommen, um ihn zu töten. Die Priester (Hans-Jürgen Lazar, Dietrich Volle und Vuyani Mlinde), die kommentierend und reflektierend um ihren Bischof agieren, drängen ihn, die Vesper abzuhalten und die Kathedrale zu schließen (was er freilich nicht tut, sonst wäre ja die Oper ohne Martyrium jäh zuende). Zuweilen treten die beiden Koryphäen (Britta Stallmeister und Katharina Magiera) hervor, um als Exponentinnen ihrer Gemeinde das Geschehen zu koppeln. Mit den Vespergesängen (bravouröser Frauen-, Männer- und Kinderchor, unter der Leitung von Michael Clark) hat das großangelegte Finale begonnen, denn während das geistliche Ritual (Dies irae) unerbittlich seinen Lauf nimmt, misshandeln die zurückgekehrten Ritter den unflexiblen Oberhirten und begehen schließlich den Ritualmord. Als Becket während der Grablegung noch einmal zerhackt wird, wieselt sein Wiedergänger mit seinem Koffer erneut über das Fallreep, um im Hintergrund seiner Oper zuverschwinden. Nach der rituellen Handwaschung erscheinen die Ritter endlich an der Rampe, um eine politische Verlautbarung abzugeben: „In geistiger Umnachtung beschloß er seinen Freitod.“
Pizzettis musikalischer Anlage grandiose Qualitäten zu attestieren, wäre unredlich. Regisseur Keith Warner hat für den Spielverlauf und seine Glaubenstücken intelligente Lösungen gefunden; das Orchester (Leitung: Martyn Brabbins) hat dezent die Stimmen getragen; die sängerische und spielerische Leistung aller Beteiligten lohnt die Zeugenschaft beim Mord im Dom.

MURDER IN THE CATHEDRAL (Assassinio nella cattedrale)
Tragedia musicale in zwei Akten und einem Intermezzo von Ildebrando Pizzetti.
Text von Ildebrando Pizzetti nach dem Drama Murder in the Cathedral (1935) von T. S. Eliot, englische Fassung: Geoffrey Dunn
Musikalische Leitung Martyn Brabbins. Regie Keith Warner.
Bühnenbild Tilo Steffens. Kostüme Julia Müer.
Dramaturgie Norbert Abels. Licht Olaf Winter.
Chor und Kinderchor Michael Clark.
Thomas Becket – John Tomlinson. Ein Herold – Michael McCown.
1. Chorführerin – Britta Stallmeister. 2. Chorführerin – Katharina Magiera.
1. Priester – Hans-Jürgen Lazar. 2. Priester – Dietrich Volle.
3. Priester – Vuyani Mlinde- 1. Versucher / 1. Ritter – Beau Gibson-
2. Versucher / 2. Ritter – Simon Bailey. 3. Versucher / 3. Ritter – Brett Carter.
4. Versucher / 4. Ritter – Magnús Baldvinsson-
Chor und Kinderchor der Oper Frankfurt. Frankfurter Opern- und Museumsorchester.
Weitere Termine:
05.05.2011 | 08.05.2011 |
12.05.2011 | 15.05.2011 |
21.05.2011 | 27.05.2011 |
29.05.2011
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