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>>>> Interview mit Calixto Bieito.
Darf man das? Über wenige Inszenierungen habe ich mich während meines nun schon geraumen Opern(er)lebens so sehr und oft gestritten wie über diese. Der Warnhinweis ab 18 empfohlen deutet ein wenig auf die Problematik, zugleich aber auch die allfällig neue Prüderie an, die auf eine früher als gewohnt reifende Jugend mit besonderen Zensurmaßnahmen reagiert oder doch reagieren zu müssen meint; dabei wird die grobste Sexualgrausamkeit in Bieitos Inszenierung von jedem Movie-Trash um ein mehrfaches überboten, den sich ein nur halbgewitzter Jugendlicher aufs einfachste aus dem Netz ziehen kann und auch zieht. Da kann man wirklich nur den Eindruck einer so restlosen Realitätsferne bekommen, daß der berühmte, seinen Kopf in den Sand steckende Strauß dagegen ein Ausbund prophetischster Hellsicht zu sein scheint. In einer sich zunehmend correctnessierenden Gesellschaft soll insbesondere der historisch-anthropologische Zusammenhang von Sexualität und Gewalt zunehmend vom Weichzeichner verschmiert werden – jedenfalls undurchscheinbar werden, wozu nicht zuletzt die Skandale ständig neuent- und aufgedeckter Übergriffe den ideologischen Schlössern zum Schlüssel wird. Interessanterweise bläst Bieitos Inszenierung ins selbe Rohr. Aber falsch herum. Das gibt ihr die Kraft.
Also darf man das? Noch Mozarts Serail-Musik, auch wenn Patrick Lange ihr alles andere als gemütliche Tempi gibt, ist eine gewisse Behäbigkeit des Geschlechterumgangs anzuspüren, nicht ohne mit Freimaurer-Humanität verrührter Naivetät, auch wenn Bieito im Programmheft meint, er, Mozart, habe das heikle Geschlechterverhältnis sehr wohl thematisiert. Wo genau man dies der Musik anspüren könne, bleibt mir selbst freilich so rätselhaft wie den Kritikern der Inszenierung diese furchtbar ärgerlich, deren entschiedener Befürwörter wiederum ich bin.
Ja, darf man das? Dürfen in ein klassisches Libretto neue Sätze hineingeschrieben werden, alte aber werden gestrichen, und dürfen diese Sätze ganz offensichtlich derart neue sein, daß sie ein Stück gewissermaßen umschreiben? „Du verfluchter Arschficker! Weißt du eigentlich, wie sie dich immer genannt haben? ‚Kleiner Schwanzlutscher’.” Bei allem losen Mundwerk, das für Mozart aus Briefstellen verbürgt ist, so etwas hätte ja nun ganz gewiß Die Entführung aus dem Serail nicht das tändelnde Leib- und Magenstück eines im Unterleib aggressiven, in seinem Kodex indes um so prüderen höheren Bürgertums werden lassen, zu dem gerade dieses Singspiel geronnen war. Und wenn es schon Usus geworden ist, daß sowieso Partien gestrichen werden, seit je übrigens, und daß Regisseure nach Gut- oder Schlechtdünken Vorlagen eben oft nur noch als solche begreifen, dann ist Bieitos… wie es ein Freund genannt hat: Verfälschung letztlich nur konsequent. Denn er hat ja recht damit, daß schon bei Bretzner und Stephanie d.J., den Librettisten, und eben auch bei Mozart selbst, der Stephanies Text vertont hat, die Verhältnisse der Geschlechter ganz offenbar solche der Gewalt sind. Im, sagen wir, „Original” täuscht darüber freilich der parlierte Weisheits-Humanismus Bassa Selims hinweg – und s o l l eben täuschen. Genau das ist es, was Bieito von diesem vorgeblich tändelnden Singspiel hinwegzieht. Er bewahrt es davor, ein so verlogenes wie süßlich nach Mottenpulver riechendes Divertimento zu bleiben wie das, zu dem es geworden war, und gibt ihm, wider die ihm eigene Bewegung, Relevanz. Denn tatsächlich wird Konstanze von Selim auf dem Sklavenmarkt gekauft und bei sich zuhause beschäftigt, zumal er ihr schwere Gewalt anzutun droht, sollte sie ihm nicht gefügig sein. Daß er eigentlich aufgeklärter (!) Christ ist, der ins Exil und die andere Religion vertrieben wurde, macht den Fall nur skandalöser, als wäre Bassa Selim bereits als moslimischer Potentat sozialisiert worden. Da täuschen auch seine lebensphilosophisch-banalen Weisheiten nichts, die ihm der Regisseur ganz berechtigterweise weggekürzt hat. Daß er sich schließlich zum Verzicht auf Konstanze erklärt, ist aber die Konsequenz einer Selbstrührung, die aus seiner wirklichen Verliebtheit entsteht. Genau diese Bewegung verstärkt Bieito, wenn er das gesamte Szenario in ein oberflächlich glanzstrahlendes Bordell-Milieu verlegt und aus Bassa den Zuhälter und aus Osim seinen Verwalter macht, der seinerseits auf tumbe wie immer wieder in rauhste Gewalttägkeit fehllaufende Weise verliebt ist. Diesen selben Glanz haben die „klassischen” Serail-Erzählungen auf das europäische Publikum ausgeübt – sinnbildlich in einer der schlagendsten und zugleich schönsten Bebilderungen einer Ouvertüre ausgedrückt, die ich je sah: Zu Patrick Langes temperamantvoller Leitung des Orchestervorspiels sehen wir eine wunderschöne, lockende Trapez-Artistin zwischen den hohen, werbeglatten Flächen der Kosmetik- und Bekleidungsindustrie. Hinter diesen Flächen öffnen sich Separées, in denen sehr wohl gevögelt, öfter aber geduscht wird. Mit Nackheit, besonders der Männer, geht Bieito bekanntermaßen freizügig um – was ihm allerdings das Problem ins Bordell schickt, daß nicht erigierte Mannesglieder an eine zumal brutale Erregung niemanden recht glauben lassen, indes auch das weibliche Genital auffallend züchtig versteckt bleibt. Hier hat die auf Überschreitung angelegte Inszenierung ihre deutlichen und ziemlich prüden Grenzen: biologisch-psychologische nämlich. So sehen die Vögeleien dann halt auch aus; einerseits paßt das plumpe Scheinrammeln, das man hier wirklich „bumsen” nennen muß, zu der groben Gemütsart der männlichen Akteure, andererseits macht es aus den Protagonisten derart hilflose Geschöpfe, daß es an eine Lächerlichkeit grenzt, bei der nur die – unbewußte – Verzweiflung wirklich wahr ist, die sich schließlich in einer Massenexekutions-Szene entlädt. Nachdem dann wie in einem Königsdrama Shakespeares sozusagen alles tot ist („Oh, mein Gott, alle tot – und voller Erinnerungen”), paßt die das Stück abschließende große Hymne auf Bassa Selim freilich überhaupt nicht mehr. Hier ist eben selbst Bieito nicht mehr konsequent. Andernfalls hätte er dieses Ende gestrichen oder ersetzen lassen wie so vieles andere aus dem Libretto. Der mit der Massenexekution beginnende Umschlag in eine Trash-Burleske tut der sonstigen Schärfe dieser ansonsten herausragenden Inszenierung nicht gut: er ist so notwendig wie billig.
Nicht billig sind die Begründungen, die Bieito seiner radikalen Interpretation in Form von digital laufenden Textreihen beigibt, die als lichtrote Satzbänder links und rechts an der Bühne und über den Separées, vorne links, hinten rechts mitlaufen: Zitate aus dem Originallibretto, kombiniert mit der riesigen Projektion einer sich allezeit schminkenden Frau. Und schon gar nicht billig ist die Darstellung der Konflikte in den Unterdrückern: Konflikte mit ihrer Liebe, die sie erfaßt hat, wie irgend einen „normalen” Menschen sonst. Da nimmt Osmin seine tote Geliebte und setzt sie neben sich, unterhält sich mit ihr, frühstückt mit ihr: In solchen Moment vermittelt die Inszenierung intensiv die Tragik der eingebürgerten Geschlechter- und Machtrollen. Was mehr ist, als ich über irgend eine andere der Serail-Inszenierungen sagen kann, die ich bis heute gesehen und angehört habe. Allerdings läßt es auch schmerzhaft die Tändeleien spüren, mit der sich Mozarts Musik in der Entführung aus dem Serail allzu gefällig macht; dafür wird das immer schon nur vermeintlich gewesene „Türkische” angenehm in den Hintergrund gedrängt – was durch Patrick Langes Dirigat, das insgesamt die Tempi anzieht, besonders akzentuiert wird: Ein seliges Verbleiben bei allzu bezaubernden Bildnissen ist nicht, noch bei der saftlosen Reinheit, für die weichlich geschluchzt werden könnte – doch um so tiefer klingt Blondes Ruf: „Ich habe Sehnsucht nach Schönheit!”
Die Entführung aus dem Serail.
Singspiel in drei Aufzügen von Wolfgang Amadeus Mozart.
Libretto von Christoph Friedrich Bretzner, bearbeitet von Johann Gottlieb
Stephanie d. J.
Musikalische Leitung … Patrick Lange Inszenierung … Calixto Bieito
Bühnenbild … Alfons Flores Kostüme … Anna Eiermann Dramaturgie … Antje Kaiser Video … Rebecca Ringst Chöre … André Kellinghaus Licht … Franck Evin
Bassa Selim … Guntbert Warns Konstanze … Brigitte Geller Blonde … Karolina Andersson, Julia Giebel Belmonte … Finnur Bjarnason Pedrillo … Thomas Ebenstein Osmin … Jens Larsen
Die nächsten Vorstellungen: 2. und 8. April 2011, jeweils um 19.30 Uhr.
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Tja, sorry, jetzt habe ich hier eine lange Einlassung zur Oper verfasst und bin damit vom Programm gelöscht worden. Wohl weil das verzehrt angezeigte Wort nicht mehr gültig war. Ärgerlich, aber nochmal werde ich es nicht schreiben. Scheint auf 10 Sekunden Statements aus gelegt zu sein. Grüße
Löschung Ist mir auch schon passiert. Denselben Text kriegt man bei nochmaligen Schreiben nicht wieder zusammen. Deshalb kopiere ich einen Text, bevor ich mein “Werk” abschicke d.h. hier sichere. Dann kann ich ihn nochmal einfügen. Gruß und nochmal Kompliment wegen “Calvinos Hotel”.
Schwarzes Loch Aha, Ihnen also auch. Das stützt meine Theorie, dass es sich beim Internet eigentlich um ein datentechnisches Äquivalent eines Schwarzen Loches handelt. Alles, was wir jetzt noch lesen können, das verharrt gewissermaßen am Rande Ereignishorizont. Und dann plötzlich … wusch!!! ist es weg – ab in das einzige Loch, das von Natur aus keine Haare hat. Und die Autoren können sich nur damit trösten, dass sie dann möglicherweise irgendwo jenseits in anderen Dimensionen gelesen werden. Aber da ich Agnostiker bin, so bleibt mir nicht mal das. (Dank für das Calvino-Lob).
In der Natur geht ja nichts verloren, ebenso wenig im WWW – sagt man. Das ist natürlich nur Theorie, denn das von Ihnen Geschilderte ist auch mir schon zwei, drei Mal passiert. Dann habe ich es zwei, drei Mal nochmal geschrieben, ohne wissen zu können, ob nun der erste oder der zweite Versuch der bessere ist. Allerdings kopiere auch ich seitdem meine Texte, denn zwei, drei Mal sich von der Technik für dumm verkaufen lassen, reicht völlig. Ich frage mich ohnehin manchmal, welchen Sinn es überhaupt macht, “hier” zu schreiben, wo es doch so viel Papier gibt und auch Ohren, zu hören. Auf Letzteres, am 14ten im Rauschgold, freue ich mich schon. Da geht dann auch nix verloren.
@PHG, Schlinkert und den Cellofreund. An sich geht Kommentartext nicht verloren, wenn man nicht versehentlich etwas Falsches anklickt. Aber ich habe es mir, da ich solches Fehlklicken selbst schon “fabriziert” habe, angewöhnt, längere Stellungnahmen vorher in meinem OpenOffice zu schreiben und dann einfach als Kommentar einzukopieren.
Schade. Ich wäre nämlich, PHG, auf Ihre Einlassung sehr sehr gespannt gewesen, und ich weiß, daß auch von der Komischen Oper mitgelesen wird. Diskussionen von Inszenierungen habe ich immer wieder provozieren wollen und will das auch noch weiterhin. (Es kann doch nicht angehen, daß es meinen Tollen ständig gelingt, Text einzustellen, seriösen Kommentatoren aber nicht.)
Sitze im Café und … … will es nachher nochmal versuchen, mir den Text vom Morgen aus dem Hirn zu graben. Wird sicher gelingen, wenn er auch gewiss etwas von der Leichtigkeit im Ton verlieren dürfte, die ich am Morgen traf. (Selbstlob)
Momentan bin ich noch etwas abgehalten, denn ich fand gegen Mittag den walisischen Bocksberg in der Post und habe mich während der Busfahrt in die Stadt bereits festgelesen. Jetzt kann ich das nicht unterbrechen. Sie werden es verzeihen.
Habe mir als Förderung für den Bocksgesang einen trockenen Riesling dazugestellt. So, und jetzt wird das erstmal kopiert, bevor ich es wieder dem schwarzen Loch übergebe. Grüße aus einem sonnigen Wiesbaden.
Den walisischen Bockberg. Bringe ich Ihnen dann aber als fertige Rundfunkproduktion mit ins Rauschgold. Das ist dann nochmal etwas ganz anderes.
Tragos grüßt Ja, ich weiß und freue mich drauf. Ich inszeniere aber auch gern im Kopf und habe deshalb meine Lektüre sehr genossen, mit der ich jetzt erstmal durch bin.
Mir wird immer deutlicher, dass ich qua Calvino auf Sie treffen m u s s t e. Fast fürchte ich so vieles, was sich jetzt für mich aktualisiert.
Aber egal, verneigen wir uns vor der Göttin! Was sonst zählt! – PHG