11 Uhr:
[Bibliothèque Sainte-Geneviève.]Es ist mißlich, wenn man seinen Flug verpaßt; so etwas aber innerhalb von anderthalb Wochen gleich zweimal hinzukriegen, braucht, denke ich, ein Talent, das von Mutwillen, wenigstens Leichtsinn, nicht völlig freizusprechen ist. Kurz: Ich bin immer noch da.
Dabei war ich wirklich früh aufgestanden; mein Flieger ging um 6.40 Uhr, um zwanzig nach vier Uhr brach ich auf, bekam auch den richtigen RER, aber problematisch war, daß so früh noch keine Métros gehen. Eine Busverbindung wäre noch möglich gewesen, aber an den Hallen die Busstation suchen, wenn wahrscheinlich noch kein Aas auf der Straße ist? So entschied ich mich für die ziemlich schnelle Verbindung ab der Gare d’Austerlitz, allerdings nicht direkt nach Orly Sud, sondern man muß an der Zwischenstation Pont de Rungis aussteigen, da wartete auch gleich ein Bus, der mich in der Tat in der völlig richtig berechneten Zeit zum Flughafen Orly brachte. Nur, halt, Orly Ouest, nicht etwa Sud, von wo mein Flugzeug starten sollte. An sich ist das auch kein Problem, weil eine schnelle Transferbahn verkehrt, Orlyval genannt, bloß eben, daß diese Transferbahn überhaupt erst um 6 Uhr in Betrieb genommen wird. Es war 5.45, als ich ankam. Ja, ich war leichtsinnig. Das wird man, wenn man nur mit Handgepäck reist und denkt, was soll’s denn? ich geh durch die Sicherheitskontrolle, hol mir schnell vorher den Bordpaß… – „Schnell vorher” – ich sage Ihnen! Massen Budapester drängelten sich vor den Check-in-Schaltern, auch Leute, die unbedingt nach Toulouse, ja sogar nach Nizza wollten, was ich überhaußt nicht verstand. Nach Berlin wollte hier keiner, jedenfalls nicht m e h r. Ich sprach einen der Sicherheitskräfte an. „Gehn Sie nach oben, direkt an den Easyjet-Schalter.” „Aber ich brauche meinen Bordpaß.” „Na gut, hier durch.” Und ich stand in der immerhin kürzesten Schlange. 5.55 Uhr. Es ging und ging nicht voran. Letzter Check-in für meinen Flug: 6 Uhr. Um 5.58 Uhr zerknusperte meine Geduld, und ich drängte mich nach vorn, sprach den Flugabfertiger an, er hatte keine gute Laune. Hob seine Armbanduhr: „Sechsuhreins”, sagte er, „Checkin ist vorbei.”
Eine Minute, du meine Güte!
„Bitte?”
Er zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sich beschweren wollen, oben bitte am Easyjet-Schalter.
Ich also da hochgepest, den Schalter auch sofort gefunden, nur eine Person stand da und sprach in ebender Aufregung, die ich selber hätte haben müssen, aber nicht hatte, jedenfalls nicht zeigte, auf den angenehm höflichen Schwarzen ein, der, wie ich dann sah, extrem schöne Hände hatte. Sowas versöhnt mich sowieso immer. „Pardon, pardon”, so schob ich bestimmt den Aufgeregten beiseite, der mir auch sofort Platz machte, wenn auch aus Verdutzung eher als Bereitwilligkeit.
Ich erklärte meinen Fall.
„Das tut mir sehr leid, aber ich kann da nichts machen.”
„Entschuldigung, ich habe aber doch gar kein Gepäck, nur mein Handgepäck, ich müßte nur eben durch die Sicherheitskontrolle… das Flugzeug hebt doch erst in einer halben Stunde ab, und dieser Flughafen ist gar nicht groß.”
„Ich weiß, ich verstehe Sie. Aber ich darf Ihnen nicht helfen. Das ist unsere Firmenpolitik: Eine Minute zu spät, und der Flug ist verpaßt.” Ich begriff. Hätte Le Duchesse für mich auch die Easy-Boarding-Option dazugebucht, wäre ich in jedem Fall pünktlich gewesen. Hat er aber nicht. „Wir dürfen das nicht. Ich kann Ihnen nur anbieten, daß Sie heute abend den 6.20er nehmen.”
„Heute abend?”
Er lächelte: „52 Euro”, sagte er.
Das war nun wieder okay, i s t okay, finde ich.
„Dann mach ich das.”
„Da müssen Sie um 6.40 Uhr wiederkommen. Bevor nicht das verpaßte Flugzeug weg ist, darf ich nichts umbuchen. Und”, jetzt sah auch e r zu Uhr, „es ist ja noch eine halbe Stunde da und wartet auf die Passagiere.”
Unter anderen Umständen wäre ich über diese bizarre Auskunft sehr erheitert gewesen; Heiterkeit lag mir aber noch nicht.
„Gut, ich werde hiersein.”
Einen Café crème besorgt, dann nach draußen vor die Halle gesetzt und geraucht.Ich dachte nach. Schon bei dem Herflug war mir aufgefallen, daß Easyjet die Strecke Berlin-Paris immer gleich mit Rückflog flog: der ankommende Wusch Reisender wird ausgeladen, da wartet der abfahrende bereits und kann auch quasi gleich einsteigen. Offenbar dient die strikte Zeitpolitik der Einführung eines verläßlichen Flugplans, der schließlich dem von Eisenbahnlinien ähnlich werden soll; was vernünftig ist, wenn eines Tages Flüge wie S-Bahnen gehen und kommen sollen. Der Tokaido Shinkansen zwischen Kyoto und Tokio verkehrt viertelstündlich über die rund 500 Kilometer; ich kann mir gut vorstellen, daß in sehr absehbarer Zeit die Flieger innerhalb der Metropolen Europas in ähnlicher Taktung verkehren sollen. Insofern schlürfte ich meinen Kaffee durchaus einverstanden. Außerdem habe ich ja kein Gepäck dabei, so daß ich für den Tag flexibel bin, wenn es auch ärgerlich ist, für die Fahrt zurück nach Paris und wieder hierher zusätzliche zwanzig Euro zu bezahlen.
Aber arbeiten wollte ich, und ich hatte vor allem keine Lust, mich bei dem Gräfin zu melden, der mich heute morgen, so empfand ich das schließlich d o c h, sitzengelassen hat. Stimmt natürlich nicht, i c h war ja gestern abweisend gewesen. Also, was tun? Ich hab zwar nur den Rucksack, aber mit Laptop, Typoskript usw., ist es halt doch kein Vergnügen, die ganze Zeit durch die Hitze zu flanieren, und in die L’Excentrique wollte ich auf keinen Fall mehr zurück… – als mir die Sorbonne einfiel, vielleicht auch, wo Walter Benjamin so lange gesessen und gearbeitet hat: die Nationalbibliothek. Ich hatte aber Lust auf die Sorbonne.
Fragte mich durch.
Da sitze ich nun, schreibe mein Arbeitsjournal und werde am Typoskript der >>>> Fenster von Sainte-Chapelle weiterarbeiten, vielleicht, wenn man mich läßt, in der Mensa, und sofern ich sie finde, zu Mittag essen und nachmittags wieder nach Orly hinausfahren. Gegen 20 Uhr sollte ich zurück in Berlin sein. Wenn Easyjet mich läßt und Paris nicht ein weiteres Mal an mir saugt. Irgendwie ist es, als sollte ich nicht mehr weg. A b e r, Leser: Was für ein Saal!Auf den Gang gegangen und leise mit meinem Jungen telefoniert, der heute von der Klassenfahrt zurückkommt und den ich doch hatte vor seiner Schule abholen wollen. Dann mit seiner Mama telefoniert. Er wird nicht alleinsein.