Befreiungen ODER Ein drittes Leben vor dem Tod. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 17. Dezember 2016.


[Arbeitswohnung, 6.30 Uhr
Ives, Symphony IV (Metzmacher, Berliner, >>>> DGC)]

Seit 4.30 Uhr auf – nicht um zu arbeiten, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern weil ein Teigling aus dem Kühlschrank mußte, um sich zu akklimatisieren, und damit die Hefe treibt. Meinen Lievito madre habe ich so vernachlässigt in den vergangenen Monaten, daß ihn (oder nicht doch sie?) zu reaktivieren ein wenig Mühe macht. Mal sehn.
Aber da ich dann schon mal auf war, konnt‘ ich auch gleich an den Schreibtisch.
Seit gestern höre ich mich mal wieder durch die >>>> Digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, las über Rattles Fortgang, Petrenkos Kommen nach, hörte mir etwas über Richard Strauss an, und aber es lockte mich zu Gubaidulina und Eötvös. Als >>>> Hopp im Pausengespräch sagte, man müsse auch die Beatles als Musiker ernstnehmen, weil sie Musik von Menschen für Menschen gemacht hätten, da allerdings dachte ich: Was für ein Mainstreamschwätzer – und wechselte zu Gubaidulina und Eötvös zurück, landete aber bei nun Ives, vorher Henzes „Being Beautious“, einem der schönsten Kammerstücke der sogenannten Neuen Musik, die ich überhaupt kenne.
Lärm, viel Lärm bei Ives. Aber so, wie die Welt ist.
Konzentrierte, schwebende Innigkeit bei Henze. So, wie sie vielleicht einmal sein wird. Wie sie, würde लक्ष्मी sagen, parallel immer ist. Und die Löwin hat einen tiefen Heimarort verloren; das war gestern die bittere Nachricht. Derweil ich meinen Auftragsroman weiterschreibe und ihm das beste mitgebe, das ich habe. Fast gibt es schon den Unterschied nicht mehr zu „eigenem“.
Namen sind eitel.
Dennoch überlege ich ernsthaft, ob überhaupt noch „Eigenes“ schreiben. Eigenes, was soll das sein? Die Sätze müssen stimmen, ihre Autor:inn:en sind völlig egal. „Und“, sagte ich gestern zu Amélie beim chinesischen Fondue, „es kommt nicht mehr drauf an, ob ich auf das bislang Gestaltete noch Neues drauflege. Stürbe ich jetzt, das Werk wäre da so oder so. Alles weitre muß es selbst vollbringen.“ „Und die Triestbriefe?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Und die Béart?“ „Wen kümnmert‘s? Sehen Sie, weshalb nicht in den kommenden fünf Jahren einfach mal Geld verdienen, wirklich Geld?“ Wiederum zur Löwin: „Hätte ich die Energie, Leidenschaft und Professionalität in etwas anderes geflößt als meine Literatur, wäre ich heute ein wirklich vermögender Mann.“ Und leise lachend: „Läßt sich nachholen. Gib mir fünf Jahre.“
Wie ich es anstelle, darüber hier kein Wort. Nun gilt es einmal, nicht wahrhaftig, sondern strategisch zu denken.
Und überhaupt hier nicht mehr sehr viel Worte. „Befreiung“: Ja, es ist befreiend, kaum noch in Der Dschungel zu schreiben. Es ist befreiend, mich nicht mehr um literarische Veröffentlichungen zu kümmern, sie mir im Wortsinn egal sein zu lassen oder sie einfach anderen, die sie wollen, zu überlassen. Weshalb soll ich mich wieder Kränkungen aussetzen? Es waren genug. Die beiden Kommentare >>>> dort unter Winkels‘ ZEIT-Kritik haben den Deckel draufgelegt: daß niemand dort widersprach oder zumindest Einwände hatte, weder redaktionell noch der Rezensent selbst, um von einem allgemeinen Publikum zu schweigen.

Aber es macht Freude zu sehen, wie Die Dschungel weitergeführt wird, von >>>> Bruno Lampe allen voran, doch auch >>>> von Findeiss immer wieder. Andere werden vielleicht folgen.
So dachte ich vorhin: Weshalb nicht Die Dschungel als meine Berliner Philharmoniker sehen, und ich trete jetzt wie Rattle ab, indessen Bruno Lampe, z.B., übernimmt, als neuer Chefdirigent? So wird dann er sie prägen. Oder jemand anderes. Weil „meine“ Zeit vorüber. Meine Dschungelzeit, wohlgemerkt, durchaus nicht an sich. Der Nukleus Der Dschungel aber wird bleiben, nur eine andere Tonfarbe annehmen.
Ein Angebot gibt es bereits. Ich brauche noch, freilich, Spezifiziertes. Es könnte auch eine Luftnummer sein, da seh ich noch nicht klar. Klar ist aber, also wenn ich annähme, daß ich im Süden wohnen würde, an „meinem“ Meer – sogar auf ihm, sozusagen. Die Arbeitswohnung würde ich allerdings halten. Eine Art ANH-Museum des vergangenen Vierteljahrhunderts, offen den Freundinnen und Freunden, die hier unterkommen möchten, wenn sie in Berlin sind, offen meinem Sohn und seiner Liebe, offen auch der Löwin, लक्ष्मी, der Elfe, dem Ameriner und Wiener Freund, wem immer – und mir der feste Brückenkopf zu Deutschland, dieser mir so unselig-unguten Nation, die mich als Fremdkörper ausscheiden wollte, mit ihrer aber mir allernahsten Kultur in der mir allerliebsten deutschen Stadt.

>>>> Luft von anderem Planeten.
Die literarischen Auftragsarbeiten auf der einen, öffentlichen (aber nie genannten) Seite, und für sich selbst schreiben auf der anderen, privaten. Veröffentlichen nur noch, wenn jemand an mich herantritt und mich darum bittet. Dann bereit dazu sein, aber nur dann.
Alles andere wird sich fügen.

Liebste Freundin, ich werde Ihnen nicht mehr oft schreiben in den kommenden fünf Jahren, die ich nun meinem Geschäftsleben gebe. Oder nur noch privat. Von Ihrem Wert wird das nichts kratzen, und auch nichts von dem meinen.

ANH

P.S.: Gestern abend, als ich zum Essen ging, nahm ich nach Jahrzehnten wieder einen Gehstock, den mit dem Otterkopf. Dazu trug ich den, wie ihn die Löwin nennt, „Herrenmantel“, der innen ganz aus Pelz ist. Außen sieht man nur den breiten Biberkragen. So flanierte ich über die zwei Straßen und war sicher meiner und zufrieden. Daß ich die Wortstellungen modifiziere, muß ich nicht mehr rechtfertigen. Es trägt den Sinn rein in sich selbst.

[Britten, Violinkonzert op.15
(Berliner, Janine Jansen, Daniel Harding, >>>> DCG)]


P.P.S., 11.10 Uhr:


Brot 171216

5 thoughts on “Befreiungen ODER Ein drittes Leben vor dem Tod. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 17. Dezember 2016.

  1. Internet und dreimal vielleicht Vielleicht ist das Internet eher ein Affenhaus im Zoo. Die Besucher kommen herein geschlendert und schauen auf die armen Affen und diese schauen zurück und jeder denkt, er beobachtet die anderen.
    Aber es gibt vielleicht eine Tür und ein Affe kann entweichen, dann lernt er den wirklichen Dschungel kennen, da kann man nur dem gratulieren, dem es gelingt.

    Wenn Sie tatsächlich dem literarischen Leben Lebewohl sagen, können Sie sich vielleicht auch entspannt Mainstream Meinungen leisten und sogar der leichten Muse etwas abgewinnen, Sie werden ja dann nicht mehr beobachtet.
    Alles Gute für Sie.
    Und die Zeit der gehässigen Kommentare ist endgültig vorüber.

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