6.36 Uhr:
[Arbeitswohnung. Book of Madrigals (Ensemble Amarcord.]
Mein Junge schläft noch, hustet allerdings schlimm vor sich hin; bereits gestern abend hatte er gesagt, er habe so ein Kratzen im Hals. Hoffentlich wird er nun über Weihnachten nicht krank.
Ich bin um kurz nach fünf hoch, habe nur wenig Licht gemacht, eben so, daß genug auf den Schreibtisch fällt; Musik wird mit Kopfhörern gehört, die ich dann um halb sieben, wenn der Bub seinen Kakao an sein Lager bekommt, auf die Lautsprecher umstellen will. Mit Musik geweckt zu werden, das kennt er allenfalls noch aus der alten Väter-WG, für die Katanga nun wirklich Nachmieter, bereits ab diesem Dezember gefunden hat: um zehn Uhr muß ich nachher für die Schlüsselübergabe rüber. Zwei Franzosen haben die Wohnung gemietet; sie wollen auch die Renovierung übernehmen. Ich hätte es gerne, daß meine Sachen, die noch im Keller stehen, dort für einige Zeit stehenbleiben dürfen, weil ich momentan gar nicht weiß, wohin mit ihnen. Es sind vor allem noch Kindersachen; darüber ist sich mit *** abzusprechen.
Ganz anderes, ganz neualtes Arbeitsgefühl jetzt, das viel direkter an die sehr gewollte Vaterverpflichtung gebunden ist, so, daß ich momentan meine, es werde einen Reflex in den BAMBERGER ELEGIEN finden. Gestern nacht, als ich mir eben n i c h t noch ein Video besorgte, sondern hier am Schreibtisch mit Blick auf meinen Sohn sitzenblieb, durchblätterte ich abermals DER ENGEL ORDNUNGEN und las auch einige der Gedichte darin, und langsam versöhnte ich mich gegen meinen ersten Eindruck, fand in die Texte hinein, trotz des fetten Druckes, der mir irgendwann auch gar nicht mehr auffiel. Dennoch denke ich jetzt, man hätte die Schrift eine Punktgröße kleiner setzen sollen; bei manchen Gedichten, deren Umbruch es erfordert hätte, eine letzte Strophe oder gar einzwei letzte Zeilen auf die Folgeseite laufen zu lassen – wogegen Dielmann und ich uns aber ganz bewußt entschieden hatten -, sieht es nun aus, als liefen sie unten aus der Seite heraus. Daß das eben an der gewählten Drucktype liegt, war in den Fahnen einfach nicht zu erkennen, jedenfalls und offensichtlich nicht von mir. Insgesamt ist der Fahneneindruck ein anderer gewesen. Ich bin jetzt sehr gespannt darauf, inwieweit der erste Eindruck n o c h einmal ein anderer werden wird, wenn die Buchumschläge um das Bändchen gebunden sind, weil sie dann, stelle ich mir vor, Band werden.
>>>> Barbara Stang schickte eine Mail; sie wolle sich mit mir am Montag mittag treffen; es sei einiges in Gang gebracht, einiges zu erzählen und abzusprechen. Ich habe zugesagt. Am Wochenende wiederum will ich >>>> Susanne Schleyer und meinen Freund M. treffen, heute mittag werde ich mit >>>> Eisenhauer essen. Neuorientierung. Bei allem bin ich von Αναδυομένη, der derzeit Fernen, begleitet. Überhaupt achten sehr die Freunde auf mich. Aber ich habe eine prinzipiell andere Haltung als bei der als Katastrophe erlebten Situation vor sechs Jahren. Noch muß ich nicht mal was ausschwitzen; alles ist für mich viel zu klar, auch ich selber bin klar, keine Trauer kann das stören.
Um halb sieben werd ich den Buben mit heißem Kakao wecken, wie er es gewöhnt ist, ihm dann zum Frühstück zwei Marmeladebrote schmieren und ihn schließlich von der Arbeitswohnung aus auf den Schulweg schicken. Nach der Schule soll er zum Celloüben hierher zurückkommen, danach dann tun, wonach es ihm beliebt.
7.36 Uhr:
[Abdullah Ibrahim, Good News from Africa.]Adrian, mit Blick auf die CDs: „Papa?“ „Ja?“ „Mein Opa ging zur Oper und verkleidete sich als Ober.“ Lacht. Und futtert zwei riesige Marmeladebrote dabei.
Soeben ist er losgezogen.
10.49 Uhr:
[Britten, Dritte Suite für Cello solo.]
Nun ist auch das Lebenskapitel „Väter-WG“ abgeschlossen; manches schleicht sich aus, anderes bricht abrupt weg, und ich weiß nicht zu sagen, was weniger mit Verlust zu tun hat. Wenn nun eines Tages der dritte Anderswelt-Band erscheinen wird, worin diese Väter-WG solch eine Rolle spielt, worin >>>> das Hochbett, das jetzt dableibt, eine solche, eine Rolle der Identifikation mit Zuhause spielt – dann wird das alles eine verwehte Geschichte sein. Es steht noch das Karom-Brett drüben, das ich hierherholen möchte, es steht noch der Keller mit meines Sohnes Spielzeug voll, mit seinen frühen Bücher, der riesigen >>>> Brio-Bahn, die wir so oft in dem großen Raum aufgebaut und mit der wir so oft gespielt haben, wir zwei Männer, und von der ich gerne möchte, daß die Zwingskindlein sie bekommen, von denen ich nun nicht mehr sagen kann, es seien „irgendwie meine“… – all das wird noch abzuholen sein, ohne daß ich momentan wüßte, wohin damit. Meine Hüte sind noch drüben, die guten Borsalini, die ich jahrelang trug und seit meiner ersten Trennung n i c h t mehr trage, die Ritterburg steht noch drüben, Hunderte Matchbox-Autos lagern im Keller… das ist anzugehen als ein Abschied, der nun schon doppelt vorbei ist, als ein neuer alter, könnte man sagen… Mir wird gerade ganz melancholisch. Älter zu werden, bedeutet, immer öfter auf immer mehr zurückzublicken; dabei habe ich es noch sehr gut mit meinem so jungen Sohn, ich kann Göttinseidank eben n i c h t schreiben, meine Kinder seien schon aus dem Haus, wie das vorhin eine Frau tat und nicht begriff, daß das, was sie offenbar als Erleichterung erlebt, eigentlich ein Stückchen mehr zu sterben ist.
…nicht begriff, daß das, was sie offensichtlich als Erleichterung erlebt,eigentlich ein Stückchen mehr zu sterben ist.
Diese Erleichterung begreift nur der oder die, die die Zeit der pubertierenden Kinder überlebt hat und erst eine Zeit braucht, um selbst wieder zu Kräften zu kommen.
Daß es wieder ein Stückchen Sterben ist, ist klar.
So wie jeder gelebte Augenblick.
Aber auf beiden Seiten diese Zeit heil überlebt zu haben bedeutet auch, mit neuer Kraft und neuen Perspektiven in ein freundschaftliches Verhältnis mit den nun erwachsenen Kindern einzutreten.
So ist es mir geschehen. Und ich bin dankbar.
@maron. Diese Erleichterung begreift nur der oder die, die die Zeit der pubertierenden Kinder überlebt hat Okay, das hab ich noch vor mir, da haben Sie recht. (Und w i e ich das vor mir haben werde bei dem Jungen. Lacht.)
Halten Sie bloß die Adresse geheim sonst ist der Keller ratzfatz leer!
eben nicht.
haben sie andere Erfahrungen?