William Walton: „The Bear“ in der Exerzierhalle in Oldenburg, Premiere 11.4.2008
Dies war nicht die erste Inszenierung in der Exerzierhalle, der neuen Spielstätte des Oldenburgischen Staatstheaters. Aber es war die bislang interessanteste: nämlich William Waltons 1967 uraufgeführte Oper „The Bear“ nach Tschechow.
Die verarmte Gutsbesitzerin Helena Popow trauert beharrlich um ihren verstorbenen Mann. Ihr skurriler Diener Luka rät ihr, das Leben doch wieder zu genießen; sie aber hält am Treueschwur fest. Um die Schulden des Verstorbenen einzutreiben, kommt Grigori Smirnow ins Haus, den die Popowa verächtlich „Bär“ nennt, the Bear. Sie will ihn vertrösten. Sie streiten. Da fordert er sie zum Duell. Als er ihr dann aber nahetritt, um sie in die Führung von Pistolen einzuweisen, erfasst die beiden Liebe. Und ein Kuss beschließt das Stück.
Wir gehen im Halbdunkel und an dem im Zuschauerraum positionierten Orchester vorbei. Die feste Bestuhlungsordnung ist aufgelöst, alle Sitze befinden sich mit den Musikern auf gleicher Höhe. Offen steht die Bühne im Raum: alles ist Trauer, ist voller Lilien. Links steht ein Sofa, rechts sind zwei Spiegel verhängt. Der Schrank noch, Stühle, eine Tür. Und vor der, auf einem Podest, steht die Urne. Mehr braucht die Szene nicht.
Anne Catrin Carstens‘ Inszenierung konzentriert sich auf das ohnedies überzeitliche Thema der Geschlechtertreue; weitergehende Modernisierung wäre tatsächlich überflüssig. Die Popowa sitzt auf dem Sofa und ist in die Betrachtung eines Fotos ihres Mannes versunken; weitere gerahmte Bilder stehen am Boden. Sie nimmt einen Brief des Verstorbenen nach dem anderen, ihre Miene wird zunehmend bitter, denn es sind Briefe an andere Frauen. Wunderbar gibt Nathalie Senf den widerstreitenden Gefühlen stimmlichen, aber auch darstellerischen Ausdruck. Wie erbost, erhebt sie sich, will wieder Ordnung anlegen, will sich wieder in den Spiegeln betrachten. Ist aber imgrunde noch gar nicht bereit. Ausgerechnet da erscheint der Bär. Wütend lässt sie ihn allein, woraufhin er sich in einem großen, von Paul Brady nachdrücklich gesungenen Solo voll Selbstmitleid ereifert und sein eigenes Leid klagt, das ihm untreue Frauen zugefügt haben. Schließlich tobt er herum, reißt Blumen aus den Vasen, packt die Urne, stellt sie vom Podest fort und setzt sich selbst darauf. Womit sich diese Oper selbst bereits zu ihrer eigenen Fabel macht. In dem kompositorischen Meisterstück des folgenden Dialogs treibt William Walton das noch weiter. Die Popowa kehrt nämlich zurück, und die beiden halten sich ihre Geschlechteruntreue wechselseitig vor – was direkt in die ungewöhnliche Duellforderung und in die Einweisung, Einweihung führt. Wie Nathalie Senf diesen Moment des Loslassens spielt, welche Stimme sie ihm gibt, die doch vorher alle Farben einer losgelassenen Gefühlswelt anzunehmen hatte – das hat diesen Abend dann besonders ausgezeichnet. Plötzlich fällt auch die kompositorische Ironie, die bisweilen Kurt Weill anklingen ließ, bisweilen auch Filmmusik, und sich in der konventionell gesicherten Klangwelt von Broadway bis Richard Strauss ganz souverän bewegte. Hier ist die Souveränität dann, in der Psychologie der Heldin, dahin und Waltons britischer Humor kommt dem hintergründigen Kenner gebrochener Menschen, Tschechow, sehr viel näher, als man meint. Er kommt ganz nah. Engagiert und sicher führte Jason Weaver das in kleiner Besetzung angetretene, aber um ein Schlagwerk ergänzte Oldenburgische Staatsorchester dort hin. Und ein fast unbekanntes Stück kam an die Ovationen.
GHelbig