Jede Antwort auf eine moralische Frage wird um so banaler ausfallen, je ungeheuerlicher ihr Anlaß ist. Es sei denn, man betrachtet beide, die Frage und die Antwort, in den naturwissenschaftlichen Wirkzusammenhängen der biologischen Chemie. Und das befragte Geschehen.
Also als Physik.
(CDXLXVIII).
Noch immer Gedichte Die moralische Frage fällt nicht banal aus, wenn ihre Form dem Anlaß angemessen ist. Daß es eben doch möglich wurde, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben.
@hurka. Das ist wahr. Aber die Todesfuge verlegt Auschwitz in den Bereich der Kunst; sie behandelt Auschwitz als Kunstmaterial und unterstellt das Phänomen künstlerischen, nicht moralischen Gesetzen. Das ist, moralisch gesehen, ein unerhörter Vorgang. Es ist Ihnen sicher auch bekannt, wie die Gruppe 47 darauf reagiert hat. Sie sah, weil moralisch grundbewegt, keine andere Möglichkeit, als den Autor auszulachen. Ihn anzugreifen, hätte sich aus wiederum moralischen Gründen verboten, da er ja ein Opfer war. Also kam es zum Lachen – einer Reaktionsbildung. Der Affront, den Celan hier beging, war ganz sicher allen spürbar – so, wie sich jetzt die Täterkinder, bzw. -kindeskinder dagegen wehren, daß ihnen >>>> Littell den negativ-selbstheroisierenden Mythos nimmt, Abkömmlinge eines metaphysisch Bösen zu sein. Statt dessen sagt er ihnen (uns): Ihr seid Abkömmlinge des Allerbanalsten.
@ANH Gelächter Das Gelächter der Gruppe 47 war Reaktion auf Celans pathetisch gesungenen Vortrag. Abgesehen davon: Wer waren denn die Lachenden? Walter Jens, Günter Grass . . .
Sofern Lyrik eine Form des Sprechens ist, kann, darf, muss sie über alles sprechen, und alles wird zum Material, wie die Alltagssprache auch ihr Material hat, die Theorie, die Philosophie.
Wäre das Grauen in Musik transformiert auch moralisch “ein unerhörter Vorgang” – die Guernica – ab welchem Punkt löst sich eine Photographie aus dem Dokumentarischen und wird Kunst?
@hurka (ff). Wie hätte jemand von Celans Art anders denn pathetisch vortragen sollen und können? Er w o l l t e ja eben nicht verkleinern; gegen den verkleinernden Zugriff einer pragmatisch-verstehenden “Aufklärung” setzte er eine Art neuen Mythos, der selbstverständlich aus einem ganz alten aufstieg. Deshalb wurde gelacht. Der Unterschied zu Alltagssprache und vor allem den philosophischen Disziplinen (streng genommen, gehören Naturwissenschaften dazu) besteht darin, daß Kunst immer auch ein Teil dessen i s t, was sie darstellt, indes die Wissenschaft zumindest vorgibt, es zu überschauen. Man überschaut aber nicht sich selbst. Wer das meint, verwechselt Selbstwahrnehmung mit Fremdbild.
Grauen in Musik: Penderecki hat da Arbeiten vorgelegt, denken Sie an das Auschwitz-Oratorium. Das war so wenig erträglich, daß Leute hinauslaufen mußten. Pasolini, mit Salò, hat Ähnliches versucht; das käme der Fotografie am nächsten. Das erschreckende Moment von Guernica wiederum hat sich, für mich, längst in Design aufgelöst. Aber ich denke, daß die Grunddifferenz zwischen sinnlichen und Wort-Künsten diejenige ist, daß vom Wort immer auch unbewußt eine Erklärung mitverlangt wird, wo die Musik “einfach” darstellt.
@ANH privilegierte und nichtprivilegierte Ist es aber nicht auch so, dass ein Subjekt – wie unbewußt auch immer es sein mag – das Medium wählt, in dem es sich artikulieren muss. Das würde übrigens auch Ihrer deterministischen Disposition entsprechen. Es ist von vornherein illegitim, einzelne – ich bleibe jetzt einmal allein bei den künstlerischen – Medien als privilegierte hervorzuheben, wenngleich es fundamentale Differenzen gibt. Die Musik gilt traditionell (auch für Sie als Wortvirtuosen?) als die reinste, autonomste Kunst von allen. Während Maler sich oft merkwürdigerweise unter den Schreibern einordnen. Der Kommentar gilt manchen selbst schon als Kunst (art and language). Ich finde nicht, dass beim Wort die Erklärungen mitverlangt werden, sondern dass in jeder Äußerung sämtliche Bedeutungsschichten zugleich anwesend sind (Beckett hat dagegen schreibend anzuschweigen versucht), wodurch Sprachkunstwerke nie den Zustand erlangen, der der Musik an Autonomie zugeschrieben wird. Die sog. Konkrete Poesie visualisiert dieses Scheitern.
“Ist es aber nicht auch so, dass ein Subjekt – wie unbewußt auch immer es sein mag – das Medium wählt, in dem es sich artikulieren muss.” Wäre es nach mir zu einem Zeitpunkt gegangen, an dem ich eigene Entscheidungen sinnvoll hätte treffen können, wäre ich ganz sicher Musiker geworden. Als mir dies als Wunsch, fast als Lebenswunsch, klar wurde, war es rein organisch zu spät – nämlich mit 19. Ich hätte bei keinem Instrument jemals mehr eine Perfektion erreicht, die mir bis heute unabdingbar vorkommt, um wirklich Kunst gestalten zu können. Das war eine reine Feststellung der nicht stattgefundenen Entwicklung motorischer Fähigkeiten. Da ich damals bereits seit Jahren schrieb, war meine Entscheidung gegen die eigene Ausübung von Musik eine rein pragmatische, deren Schmerz sich insoweit in Grenzen hielt, als Musik und musikalische Formen seit je eine Folie sind, auf der ich schrieb und schreibe. Daß ich jetzt, mit 53, anfange, Cello zu lernen, ist ein Genuß, den ich mir leisten darf, da ich meine, in Sachen Perfektion-als-Handwerk und darüber hinaus als-Kunst meinen Teil bereits so beigetragen zu haben, daß ich mir eine Schwäche anderswo erlauben kann – “anderswo” heißt: wo ich liebe. Für sonstige Hobbies wär’s eh egal. Aber ich glaube, man hat eben keine Hobbies in diesem Beruf, weil es weniger ein Beruf ist, als eben eine prinzipielle Lebenshaltung.
das ist schlicht ein wunderbarer dialog.
Lassen wir es bei diesem Schlußwort?
@albannikolaiherbst aus meiner sicht ist in ihrem satz “Ich hätte bei keinem Instrument jemals mehr eine Perfektion erreicht, die mir bis heute unabdingbar vorkommt, um wirklich Kunst gestalten zu können.” eine begriffsdiffusion: mir kommt vor, sie verwechseln “Musiker” (im Sinne von Interpret) mit “Künstler” – und in der musikalischen Kunst ist auch der virtuoseste und mit seinem Instrument organisch verschmolzenste Interpret sehr weit vom Musiker entfernt, den ich lediglich im Komponisten bzw. den eigenen Fähigkeiten gegenüber unperfektionistisch offenen Improvisationsmusiker orte.
Natürlich – auch Komponisten benötigen Kenntnisse und Fertigkeiten auf den Instrumenten, für die sie komponieren, doch sie müssen keine Virtuosen sein… und ein Instrument spielen zu können (bzw. auf und mit ihm zu spielen) ist selbst ein organisch wachsender Vorgang, der sich über alle perfektionistischen Selbstlimitationen des klassischen Verkrampfungsinventars zu erheben imstande ist (aber das wissen sie sicherlich).
aus meiner sicht sind sie – indem sie die musik als “folie” oder grundsubstanz in ihre arbeit amalgamieren – der musik (praktisch) näher, als sie es als welcher instrumentenvirtuose auch immer – je geworden wären.
ein von uns beiden geschätzter musiker (denn bei ihm trifft dieses wort zu) hat in seiner selbstheilenden einspielung >>>>spirits (1986) in den liner-notes dazu ganz fundamentales gesagt, finde ich…
🙂
(@hurka
verzeihung, wenn ich diesen großartigen dialog nun nicht beendet stehenlasse, aber mich hat ein teil des inhaltes zum mitkommentieren herausgefordert)
@ramirer. Meine Erfahrungen sind da anders; ich habe vor Instrumentalisten eine auch künstlerisch hohe Achtung. Es waren ja nicht selten s i e, die wichtige Werke der Musikliteratur erst spielbar machten, von denen zuvor die Rede ging, daß sie nicht aufführbar seien. Daß dergleichen ohne Kunst gehe, ist mir nicht einsichtig. Ganz zweifelsfrei gibt es auch eine Kunst der Interpretation, die nicht selten überhaupt erst die Seele eines Kunstwerks gestaltet. Das mit “reinem Handwerk” instrumentell abzutun, bin ich weit entfernt.
@herbst ich verstehe diesen standpunkt: und ohne den interpreten gäbe es auch kaum hörbare (klassische) musik (und einige haben ja auch wirklich seele, wenn sie spielen).
doch es wäre damit vergleichbar, dass ein buch erst durch den vorleser zur kunst wird, und das ist nicht so.
bei der malerei… da ist es ganz klar: der schöpfer ist auch der interpret (ich will da konzeptkunstavantgardisten einmal aussen vor lassen).
doch ich habe interpreten von musik gesehen (und nicht wenige), die kein tor in die musik gefunden haben, sondern nur in der wiedergabe steckengeblieben sind. diese handwerker haben mit sicherheit eine profunde beschäftigung hinter sich, und bewegen sich in edlen hallen… doch sie scheitern schon an kurzen improvisationsaufgaben in barocken stücken; und das ist ein alarmsignal, finde ich: ist doch seit dem barock viel an möglichkeiten weitergegangen, und dass es ein verdienst der klassik sein soll, dass die interpreten nicht mehr spielen können, will ich nicht als fortschritt einstufen und finde ich schade.
parallelen in der bildenden kunst gibt es zuhauf: die anatomie-handwerker, die ihr leben lang am menschlichen körper laborieren und nicht einmal daran denken, einmal davon abzurücken, sich etwa auf die anatomie des bildes vorzuwagen; und die anderen, die an den gegenstandslosen paradigmen festkleben und ihre augen nur noch zum korrigieren dessen benutzen, was am bild vor sich geht.
ich tue also grundsätzlich nichts ab – aber ich sehe mit besorgnis, wo die musik hinsteuert: und da gibt es für mich zu viel seelenloses.
@david …Seelenloses, Gewinnmaximierendes und darüberhinaus völlig intonierte Unmusikalität, die mich schaudern macht.
Zur Anatomie David: Anatomieprofessoren oder deren Mitarbeiter sind oft geniale Präparierer und hervorragende -ja sogar -Künstler an der Leiche. Mir haben sie oft imponiert. Sie tragen aber meist keinerlei Interesse in sich ,einen Schritt weiter zu gehn um sich etwa sogar künstlerisch auf die Anatomie des Bildes vorzuwagen, denn in diesem Metier sind sie nach vielen Arbeitsjahren nicht zuhause. Sie lieben das
Ruhen an der Leiche und das ruhige Arbeiten an ihrem Konstrukt im Großhirn bezüglich des Präparats und sie machen es meist richtiggehend gerne,
@side affects ich habe vielleicht auch deswegen bereits vor jahren meinen körper nach dem ableben der anatomie letztwillig verfügt, damit die anatomen ihre kunst hierorts ausüben mögen – doch bis dahin will ich von der anatomie meine ruhe haben.
der menschliche körper und seine funktionen ist nicht so zentral wichtig, wie es der humanistisch durchflochtene künstlerverstand sich (und dem betrachter) oft vorlügt.
es gibt so viele annäherungsoptionen an die inneren funktionen – die wissenschaftlichen errungenschaften anderer sind da bestenfalls eine anatomische krücke.
@david vielleicht auch eine brücke-statt krücke. wenn wir uns nähern dann suchen wir nähe. wenn wir nähe spüren dann weicht die bitternis und wir verschmelzen wenn wir glück haben samt unserer inneren funktionen mit denen unseres gegenüber oder das was wir als solches auserkoren haben- seis fiktional oder nonverbal oder visionär…
mir geht es so: je größer die vision ,je weniger konstrukt, desto besser meine lyrik oder prosa oder das bild- auch die intonation, wenn ich denn mal zeit habe , musik zu machen.