Das Dahinströmen der Erzählung, immer wieder die Blicke in die mikrotonale Struktur von Wirklichkeiten, diese ihre Gegenstände und Personen ständig umkreisenden, sie aus vielen möglichen Perspektiven betrachtenden Blicke, verlangen ein ganz ebenso f r e i e s, schweifendes Lesen; Kant hätte es „intentionslos“ genannt. Darin liegt einiges von Marianne Fritzens stupender Modernität. Ihre Poetik ist insofern extrem zeitgemäß, als sie auf ihre Weise ein unendliches Bedeutungsnetz aufbaut. Dabei mag es durchaus sein, daß niemand je allen Erzählsträngen bis ins Einzelne folgen wird können. Darum aber geht es ja auch nicht. Sondern wie Musil ganz absichtsvoll am Unvollendbaren eines Romanwerkes schrieb, aber eines nach hinten offenen Romanwerkes, so geht das Infinite bei der Fritz in die Binnenstruktur: Räume werden nicht über den irreversibelen Zeitstrahl hinausgedehnt, sondern in die Geschehensminuten selbst, die aufgespalten werden, hinein. So wird jede Sekunde zu einem potentiell unendlichen Raum, während der Erzählraum selbst, gleichsam in einer Matrix (Gebärmutter!), als das „Vierzehner Jahr“, 1914, definiert bleibt. Man muß sich als Leser darauf einlassen wollen, daß man immer nur Bruchstücke miterleben wird, diese allerdings in allerhöchster Intensität. Einer Simplifizierung reicht die Fritz auch nicht den kleinen Finger. Statt dessen nimmt es ihr Werk mit der Komplexheit einer Welt auf, die gerade ihrer Komplexheit wegen so tun will – und tun soll -, als wäre sie einfach. Genau das ist patriarchale Perspektive. Genau dem wird hier unaggressiv der Boden weggezogen.
Matriarchal nenne ich diese Poetik deshalb, weil keine Richtung vorgegeben wird, sondern sich Richtung immer ergibt; man setzt sie nicht; statt dessen reagieren die Kapitel wie Organe, ja als Lebewesen-selbst, nicht wie Maschinen, an denen Autoren, um die Mechanik zu bedienen, mehr oder minder virtuos auf ihre narrativen Knöpfe drücken. Deshalb lassen sich diese Bücher auch nur schwer ertragen, wenn man nach einem Produkt, also nach Ware, sucht, die der speziellen Befriedigung dient. Und schon gar nicht, wenn man sie für einen Markt zusammenfassen, also definieren soll. Wer diese Bücher gelesen hat, weiß oft auch nachher noch nicht, was er eigentlich las; dennoch ist da bleibend, wirkend, etwas in ihn geströmt, etwas ganz und gar Unvergleichliches. Im Fritzton: Ein Ton, wie, er war, noch niemals gehört. Daß man dessen Sprache nicht verstehe, ist dabei die einzige Polemik, die sich Marianne Fritz erlaubt.
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