DSCHUNGELBLÄTTER 1985 – 1989,
Nr. I/1, Ventôse (Februar/März) 1985
Doch nicht nur die Satiriker, nein, vor allem die Kritiker haben es schwer — wobei einzuräumen ist, daß diese sich von jenen nur dadurch unterscheiden, daß diese Jenen es noch zotiger meinen als jene Diese, – will sagen: Sie warten auf den literarischen Erlöser, der sie, vermutlich ein reiner Tor, von der Literatur und ihrem diagonallesenden Tagesjoch befreien soll sowie von der geistigen Raum- und Zeitnot, den das tägliche Unterhaltungsgeschäft in Form von Feuilletons zu produzieren sich genötigt fühlt, um rezensierelnd wie je weiterleben zu können. Der schlegelsche, geschweige benjaminsche Kunstbegriff wirkt hier ja vergleichsweise obszön. So überbrücken die Statthalter des deutschen guten Geschmacks – eine contradictio in adiecto – ihre salzlose Leere mit der Erinnerung an die Bücher, die sie verstanden. Meist ist es unvordenklich lange her, daß sie sie lasen; nun sind sie sämtlichst kleine Gurnemanze, die Klingsor des Kastratentums zeihen, weil sie ihm und Syberberg die Blumenmädchen neiden. Ihnen scheint er noch zu können, denn er hat ihnen den Griffelhalter weggenommen, die Feder, aus der die Tinte fließt, um ein Werk zu gebären. Und wenn’s der ihren (wie geschehen) einer wagte, aus der Hab-Acht-Stellung zu hoppeln, in der er seine Kollegen beläßt — und also nicht länger mehr wartet, sondern selbst Belletristisches schreibt, so ist dies erstens entsprechend, und zweitens fällt umgehend die gesamt Meute über ihn her. Die sei flüchtig, zur allerdings peinlichen Ehre eines Mannes gesagt, der, wie Nettelbeck schreibt, weder lesen noch schreiben kann.
Also sie warten, unsere Freunde, und sie wissen, worauf sie warten, denn niemand kennt so gut wie sie den Geruch der poetischen Erlösungsspur. Sie geben seit einigen Jahren sogar zu, es könne sich um eine Erlöserin handeln — ja, jede Frau, deren berechtigter Ausbruchsversuch sie zur unberechtigten Annahme nötigt, jener müsse sich in Literatur niederschlagen – wobei er sie meist niederschlägt –, kommt ihnen gelegen. Möglichst kurze Gedichtchen sollen es sein, denn man muß sie schließlich durchlesen können. Haben sie das getan und, was für die Gedichte in keinem Fall spricht, sie auch verstanden, dann wird nicht lange gesäumt, gewisse Rosen zu überreichen, die freilich schnelle welken. Vorher jedoch stoßen sie das geile, weil hilflose Jauchzen abgealterter Männer aus, schreiben einen langen bunten Artikel – fantastisches „Die“, interessantes „Das“, tiefsinniges „Der“ – und vergessen ihn sofort, weil der Markt es so braucht. Der Gedanke jedoch, Godot könne der mögliche Erlöser sein oder ein solcher sei schon längst erschienen, man habe ihn nur en passant verbrannt (denn man verstand ihn nicht oder zu gut) — dieser Gedanke kommt ihnen nicht und darf auch nicht kommen. Denn wäre er, der Erlöser, erschienen, man hätte ihn schließlich gemacht; in guter Kritiker schafft wenn schon nicht Literatur, so doch Literaten. Alle sind sie kleine belletristische Richelieus.
Natürlich, der Erlöser war immer schon da, und es gehört zu seinem Wesen, morgen vergessen zu sein, damit Platz werde für den nächsten, der dann der eigentliche ist, dem der eigentlich Eigentliche folgt. All die Eigentlichen wird wie seit je der Mangel an literarischer Reflektion auszeichnen müssen und die Bereitschaft, Leser und Kritiker – vor allem Kritiker freilich, den für diese wird er schreiben – in großer Seelenruhe projezieren zu lassen. Wagt nämlich ein Autor zu erklären, weshalb er etwas so und nicht anders schrieb – und tut er es gar explizit, womöglich als Bedingung der Konstruktion –, dann schreien die Rezensenten auf — verdächtig laut, als fühlten sie sich ertappt. Die Klügeren schweigen. Die Trennung von Belletristik und Wissenschaft soll unter allen Umständen aufrecht erhalten bleiben, sonst könnte ja niemand mehr sagen, jene eröffne mehr als diese (nämlich das, was der Leser, vor allem aber der Rezensent vorher schon wußte), und es gerieten die letzten Normen in eben die Gefahr, in der sie schon schweben, wovon man aber des guten Tons wegen schweigt. Den Wissenschaftlern, namentlich Philosophen, mußte das diskreditierte Verfahren leider zugestanden werden. Umso gefährdeter ist die poetologische Bastion. Beginnt ein Schöngeist zu denken, und zwar diskursiv – was seine Aufgabe nicht sein kann, denn er soll, wie zu zeigen sein wird, ‚unterhalten‘ –, müßten die Kritiker womöglich sich wehren. Vielleicht – was weit gefährlicher ist – machte das belletristische Denken noch Schule, und das breite Publikum folgte. Wer würde dann noch Feuilletons lesen?
Aber nur keine Angst! Das breite Publikum besteht ja aus den Rezensenten; zudem hat der Zeitgeist seine Gefühligkeit entdeckt und lamentiert seit langem in schlechten friedschen Versen. Die Frage nach dem „Bauch“ ist längst so gegenwärtig, daß kaum noch gefragt werden kann, wer sie denn frage. —