Liebesprojektionen (Chats)

Projektion 1

Eine junge Frau schreibt über einen höchst zweideutigen Chat einen über fünfzwanzig Jahre älteren Mann an, den sie damit auch sogleich aus dem Chat zu sich zieht, erst einmal in die briefliche Korrespondenz, auf die er mit enormem Fantasietanz reagiert. Die beiden telefonieren, schreiben sich fortan nahezu täglich, SMS’en, – reagiert einer(r) von beiden nicht sofort, wird die/der andere unruhig… beide wollen das gar nicht so weit kommen lassen, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, sie verwachsen ineinander, ihre Projektionen, ihre Fantasien, sie sehen sich aber immer noch nicht, ein halbes, ein ganzes Jahr lang. Dann kommt es zum ersten Streit: Wo das Aufgebot bestellen? In Hamburg (da lebt sie) oder in Karlsruhe (da lebt er). Die Eltern und Freunde der „Parteien“ werden um Rat gefragt, aber die halten die Sache rundweg für furchtbar: 1) Altersunterschied („Mädchen, überleg Dir, was Du da tust! Das ist doch ein alter Mann!“) 2) der imaginäre Charakter („Du spinnst total! Wie kann man eine heiraten, die man nie sah? Mach, was du willst, aber sicher nicht mit unserer Hilfe.“) Dennoch, die beiden sind entschieden, auch wenn es beidseitig sowas wie Enterbungen hagelt und sich im Freundeskreis auch kein Trauzeuge für solch eine Verrücktheit finden mag. Um wegen des noch immer strittigen Trau-Ortes einen Kompromiß zu finden, reisen sie und er – unabhängig voneinander – nach Frankfurt am Main und suchen sich dort jeder eine Wohnung und melden sich jeder – weiterhin unabhängig voneinander – dort polizeilich an. Dann bestellen sie in Frankfurt das Aufgebot. Beide – zu verschiedenen Zeiten, damit sie sich nicht zufällig begegnen – spazieren durch die Stadt und sprechen Passanten an: „Entschuldigen Sie bitte, ich brauche Trauzeugen…“ Deretwegen ist zwischen den – man muß sie längst so nennen: – Liebenden eine einzige Bedingung gestellt: Es dürfen nur schöne Menschen sein, Männlein wie Weiblein. (Ich meine „schön“, nicht „hübsch“. Schönheit setzt Geist voraus.) Und wie die Braut den Bräutigam – und umgekehrt, logischerweise – nicht vor der Hochzeit sehen darf, so die Braut auch nicht die Trauzeugin und der Bräutigam nicht den Trauzeugen: Sie nämlich hat den männlichen Zeugen, er die Zeugin auszuwählen. Das gelingt. Im Juni 2004 finden die Liebenden zueinander. Sprachlos stehen sie vorm Standesamt… absolut sprachlos, als sie sich in die Augen sehen. Sehr langsam, fast ein wenig wankend, gehen sie – jeder gefolgt vom Zeugen – aufeinander zu. Nein, sie begrüßen sich nicht, sagen nicht ein Wort. Beugen sich einander zu, die Münder einander zu… und um den Kitsch, aber um mindestens ebenso dringend zu vermeiden, daß sie einander wieder verlieren, also der/die andere sich mit einem traurigen Plopp in die Imaginationen wiederauflöst, die beide bis zu diesem Tag füreinander waren, küssen sie sich mit offenen Augen; überhaupt schließen sie sie nicht mehr… Bis zum späten Abend, wenn die Lider zufallen wollen, macht ihnen jedes Zwinkern Angst. Undsoweiter. Kurz vor Mitternacht setzen sie sich ins Flugzeug. Wohin sie reisen, wissen wir nicht. Auch nicht, ob sie zurückkehren werden. Die Schlüssel ihrer Frankfurter Wohnungen haben sie nämlich, und zwar überkreuz, bei den ihnen im übrigen gänzlich unbekannt gebliebenen Trauzeugen gelassen.

Nota 1:

Man kann das auch o h n e Happy end erzählen, aber wozu? Es wäre den Realisten nach den trockenen Lippen geredet und obendrein zu wahrscheinlich; Novellen sind aber „unerhörte Begebenheiten“. Neinnein, d i e s e s Happy end stünde ich durch.

Nota 2:

Man sage nicht, dergleichen finde nicht statt. Man sage nicht, das Internet schaffe nicht neue Realitäten, die die alten zumindest modifizieren.

 

 

Projektion 2

Mich erreicht die SMS einer mir unbekannten Frau, die meinen Fernsehauftritt gesehen hat:

„Lieber Herr Herbst, Sie sind einfach geil. Weiter so.“ – Sie wolle sofort in den Buchladen stürmen. Und wolle mich – obwohl ich ihr zurücktippte, ich glühte für eine andere Frau, siehe Projektionen 1 – nach meiner Rückkehr treffen. Ganz lakonisch schreibt sie: „Ich bekomme, was ich will. Sie kennen mich nicht.“ – Genau der Ton, auf den ich normalerweise anspringe: Es ist der projektive. Derjenige, der Romane schreibt, die Quellen des Nils suchen läßt, Leute zum Mond bringt oder zum Mittelpunkt der Erde, – Sinfonien schafft er, prägt Stadtteile, setzt Pyramiden wie Naturkonstanten in die Wüste oder baut Opernhäuser in den Dschungeln; ein Ton, der sich um die vermeintliche Realität nicht schert.

Mit diesem Ton beginnen übrigens französische Liebesfilme, die ja die besten sind, weil sie von vornherein nicht ohne Geist auskommen wollen. Um etwas draus entstehen zu lassen – ganz gewiß nun Literatur – spielt es nicht einmal eine Rolle, ob ich auf den Arm genommen worden bin: sondern es geht um den Reflex in mir. Ob ich sofort „Blödsinn“ rufe oder zulasse, es könne etwas daran sein. Selbstverständlich macht auch mich die Mischung aus „geil“ und „Sie“ stutzig; doch es ist ein reizvoller Widerspruch, weil er Jugendslang mit Distanzierungswille mixt.

Nota 3:

Ist das Fernsehen nicht ebenso irreal wie das Internet? Was sehen wir, wenn wir schauen? Nicht immer auch uns selbst, also den Tanz unserer Selbst- und Fremdideale? Und SMS’e wären nicht gleichfalls I d e e n?

 

 

Projektion 3

Und ist es anders, wenn ich hier in Catania durch die Straßen gehe und beobachte, in die kleinen, verschachtelten Werkstätten schaue? Was sehe ich? Jeder mir zugeworfene Blick wird zu einer Geschichte, einer mir selbst erzählten Imagination von Geschehen, die in mir immer zu Kunststücken führen und manchmal zu ganzen Wendungen in meinem „realen“ Leben. Nein, das ist nicht privat, sondern ich schreibe es auf, weil sich so Realität konstituiert, a u c h so konstituiert. Auch Gedanken sind physiologische, mithin „reale“ Vorgänge, auch sie unterliegen chemophysischen Konditionen, und das gilt auch für ihre Übertragung: sei es auf akustischem oder auf optischem Weg (der Begriff als Klang und als Zeichen).

2 thoughts on “Liebesprojektionen (Chats)

  1. >… mit offenen Augen; überhaupt schließen sie sie nicht mehr…> 
    es ist als habe ihnen die erinnerung an ihrer beider miteinander verschmelzenden fantasien die augenlider abgeschnitten. aneinander ausgeliefert wie Caspar David Friedrichs kapuzinermönch dem himmel, der grauend ins meer stürzt, starrten aus ihren augäpfeln salzkorallen. 
    angst, fragte er sie, können Sie sich erinnern, was dieses wort begriff, bevor Sie und ich einander umchatteten?
    p.

    21.11.2003 / 03:13

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