Joachim Zilts‘ Verirrungen, 4. Fortsetzung.

ZWEITER TEIL

In einer dritten, der meinen gleichenden, doch unvertrauten Welt fand ich mich wieder; erneut im Bett; anders als noch eben schienen mir seit meinem ersten Aufbruch keine zehn Minuten verstrichen zu sein. Die Ereignisse hatten etwas Zusammengeballtes, als ließe sich Zeit komprimieren. Ich war ziemlich erschöpft. Deswegen nahm ich erstmal davon Abstand, gleich in die Wand zurückzuspringen. Erst fand ich das Loch auch gar nicht, dann entdeckte ich es knapp unter der Leiste links, vielleicht einen Meter von der Gardinenstange entfernt. Ich träumte von Dickichten, die Bilder falteten sich, wie Einschüsse, plötzlich, ein grünes, pflanzliches Feuerwerk, vor meinen Augen auf. Darüber schlief ich tatsächlich wieder ein.
Ein Kuß auf die Stirn weckte mich.
,,Na, du schläfst aber fest!“ Christine lachte. „Guck mal, was das für ein Sonntagswetter ist! – Es ist fast elf, also mach dich mal schnell fertig, damit wir nicht zu spät bei Deiner Mutter sind.
,,Hör einmal,“ begann ich, da saßen wir bereits im Auto. S i e fuhr. ,,Ich muß mir dir sprechen.“
„Ach du Schreck, wie klingt d a s denn! Oder…? Nein, komm!“ Sie lenkte den Wagen spontan rechts ran. „Wenn da etwas mit einer … anderen… Bitte nicht! Keine Geständnisse! Nicht ausgerechnet heute, okay?“
Ich mußte doch lachen. „Sorry, nein, es geht nicht um sowas.“
„Sag mal, ist dir gut?“ Sie zog die Brauen zusammen. „Du siehst blaß aus… das ist mir schon vorhin aufgefallen.“
„Ah so. Blaß. – Sonst ist dir n i c h t s aufgefallen?“
„Bitte?“
„Wirke ich verändert? Bin ich fülliger, sind meine Wangen fleischiger als sonst, drücke ich mich anders aus als normalerweise?
„Aber Joachim… wovon sprichst du?“
„Hast du nicht irgend etwas Fremdes an mir bemerkt… Ich habe mich wirklich nicht verändert? Komm, sieh genau hin! Es kann eine Kleinigkeit sein, das würde schon völlig genügen….“
Sie antwortete nicht, sondern zog die Brauen zusammen. Wurde jetzt ihrerseits blaß, wandte das Gesicht ab und stierte für einen Moment blind durch die Windschutzscheibe. „Was meinst du mit ‚verändert’?“ murmelte sie. Kniff die Lippen aufeinander. Unvermittelt riß sie, weil ich schwieg, ihren Kopf herum und rief: „Dann sag schon, was los ist! O bitte! Du immer mit deinen Frauen!“
„Ich s a g doch: nein! Keine Frauen. Ein Gefühl. – Ich… ich weiß auch nicht. Du verstehst nicht.“
„Ich hab keine Lust zu sowas, Joachim. Wirklich…“
„Ich kenne dich nicht.“
„Wie?“!
„Du kennst m i c h nicht.“
„Verzeihung, soll das jetzt ein Psychodrama werden?“
„Ich sag doch, daß du es nicht verstehst.“
„Also dazu hab ich ja nun ü b e r ha u p t keineLust!“
„Ich bin nicht dein Mann, Christine. Ich habe dich vor… hab dich vor einer Stunde das erste Mal in meinem Leben gesehen.“
Sie lachte trocken auf, verstellt, künstlich. Und wurde restlos häßlich dabei.
Ich hatte spontan den Impuls, ihr wehzutun. „Du bist häßlich“, sagte ich. „Hast du eine Ahnung, wie häßlich du bist.“
Sie bekam einen ganz starren Blick.
Da tat sie mir schon leid. Ich legte die linke Hand auf ihren rechten Unterarm. „Sorry“, sagte ich. „Verzeih mir bitte. Das war dumm.“
Es war ihr deutlich anzusehen, wie sie sich zusammenriß. Wieder kniff sie die Lippen zusammen. Sie startete den Wagen, schwieg.
„Es ist mir so rausgerutscht. Bitte. Ich hab es nicht so gemeint.“
Sie schwieg weiter, fädelte uns in die Fahrspur zurück.
Na gut.
Wir schwiegen, bis wir angekommen waren.

Es wurde einer dieser Tage, die ihre Beine behäbig in den Nachmittag strecken und nicht vorankommen wollen. Ich bin sowieso nicht gern bei meiner Mutter. Dabei war die starre Frau in letzter Zeit ausgesprochen um innere Güte bemüht, fast liebenswürdig an der Normalisierung unserer Beziehung besorgt. Natürlich wirkte es gestellt. Überhaupt war in ihrer Nähe alles höchst künstlich, von der überpräzisen Art, mit der sie die Endsilben der Wörter aussprach bis zu den anthroposophischen Schondeckchen, die das Stilmobiliar schützten. Sie hatte eine Art Brunch vorbereitet, ihr Mann war auch dabei, ein weichlicher Fünfziger, der nach Moschus roch und wie ein altgewordenes Meerschwein in dem Le-Corbusier-Sessel hockte. Tatsächlich war er das einzig Gutherzige, mit dem meine Mutter sich umgab, ein verlorener Autohändler, der zu weinen anfing, wenn er zuviel getrunken hatte. Es war schon vorgekommen, daß meine Mutter ihn schroff zurechtwies und vor allen Leuten nach Hause schickte, wenn sie auf Gesellschaften waren und er sich, wie sie das ausdrückte, danebenbenahm. Ich mochte ihn irgendwie, doch konnte man keine Achtung vor ihm haben, auch wenn ihn offenbar seine Art hatte zu Vermögen kommen lassen, jedenfalls seit er mit meiner Mutter zusammenwar. Aber er war nett, fast rührend.
Wenn ich schon Schwierigkeiten mit meiner wirklichen Mutter habe, so gab es keinen Grund, mich dieser Parallelmutter gegenüber zurückzuhalten. Sie war einfach nicht zu ertragen. Mir wurde fast handgreiflich bewußt, den drei Leuten in diesem hochgestylten Raum, worin selbst die wenigen Bilder erstickten, grundlegend fremd zu sein. Das war nicht bedrohlich. Nur schrecklich lästig.
„Wie bist d u denn heute darauf?“ Sie sagte nicht „drauf“, nein, meine Mutter sagte wirklich „d a rauf“. Zum Kotzen.
„Laß ihn, Gisela, er hat Anwandlungen seit heute früh.“ Schon stupend, wie genau Christines Satzmelos den Ton meiner Mutter traf.
Ich hielt die Bemerkung, die mir spitz auf dem Zungenhals hockte, unter knappem Auflachen zurück. Schwieg einfach. Aber als wir uns am Spätnachmittag im Anschluß an einen kleinen Spaziergang durch die Vorgärten wieder in diesem Schöner Wohnen niederließen und zu allem Leidwesen auch noch Canasta-Karten vorgeholt wurden, und als Don Quixana, wie meine Mutter ihren Mann bisweilen nannte, dazu eine Flasche Martell auf den Tisch stellte, lehnte ich mich ganz weit zurück, legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und atmete laut durch. Es war zum aus der Haut Fahren! Ich gähnte, gähnte ein zweites Mal.
„Was ist? Spielst du nicht mit?“
„Nein“, sagte ich. „Ich spiele nicht mit.“ Eine solche Woge aus Sehnsucht und Verlorenheit nahm mich auf, hob mich, brach sich. Ich wollte so gerne zu meiner wirklichen Frau zurück, fast hätt ich geweint wie Quixana.
Christine und meine Mutter sahen sich an und zuckten simultan mit den Schultern.
„Wer nicht will, der hat schon.“
„Aber Junge!“ machte Quixana, dabei ist er keine fünfzehn Jahre älter als ich. „Er sieht ganz fahl aus.“ Das zu meiner Mutter. Und zu Christine: „Kommt er zu wenig nach draußen?“ Und zu mir: „Das Büro, nicht wahr? Ich weiß, wovon ich spreche. Das schafft einen. Nimm einen Cognac, hier“ und goß mir den Schwenker voll Mitleid. „Trink, damit du zu Kräften kommst.“ Es hätte nur noch gefehlt, daß er mir auf den Rücken patschte.
,,Ach was! Bis elf im Bett gelegen hat er!“ So Christine.
Bleib mir bloß vom Leib.
Sie winkte ab. Zu Quixana: „Komm schon. Laß ihn.“
Die drei teilten die Karten aus, Quixana sah immer wieder her. Ich starrte zur Decke. Da entdeckte ich eine Handbreit neben dem Chromfuß der Deckenlampe eine Vertiefung, aus der es lockend und pastellrot herausschimmerte. Das Phänomen hatte etwas Fleischliches. Es wirkte wie die Außenhaut eines kleinen Organs, ja wie ein verirrtes, verletzliches Lebewesen, das sich dort in die Decke geschmiegt verbargen, vielleicht um die Nacht abzuwarten und sich im Schutz der Dunkelheit davonzumachen, in der es ein adäquateres Versteck suchen würde. Wovon lebte das Ding? Warum kroch es nicht tiefer?
Ich sprang auf eine der Lampenschalen, guckte zurück. Obwohl mein Sessel nun leer war, bemerkten die drei das nicht, sondern lachten, weil ausgerechnet Quixana das erste Canasta auslegte. Ich konnte völlig unbeachtet einen Arm zu dem Ding ausstrecken, das, als ich es berührte, nicht einmal zuckte. Es faßte sich an wie genäßter Samt. Lebte also offenbar n i c h t, sondern bezog die Vertiefung wie ein in sie hineingewachsenes Moos. Zweifelsfrei war dies ein Eingang ins Labyrinth, in ein anderes aber, wenigstens in ein anderes Segment. Ich tastete tiefer, suchte nach einem Halt. Meine Finger rutschten aber immer wieder ab. Ich brauchte diesmal wirklich lange, außerdem hing ich direkt über dem Tisch. Hätte ich den Halt verloren, ich wäre den dreien, die tief unter mir fast wie unbewegte Puppen saßen, mitten auf die Karten gekracht. In der Tat hatten die Bewegungen etwas Gefrorenes, nein: Es sah aus, als kämpften sich Arme und Hände durch einen unsichtbaren, zähen Morast. Oder als hätte ich mich derart beschleunigt, daß sich die Zeit unter mir viskos dehnte. Auch Gelächter und Gespräche dehnten sich, schließlich war nur noch ein baßdumpfes, rollendes, nahezu maschinelles Grollen zu hören.
Ich hatte also einen guten Vorsprung.

[eingestellt am 6. 7. 2004, 9.56 Uhr]

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