[Hans Pfitzner, Das Herz. Auch für diese Oper findet mein Ohr – trotz des gänsechorigen Getüddels am Anfang – nun allmählich den Durchschlupf zum Innren, das seinen Palestrina immer schon großartig fand, so suspekt mir der ästhetisch reaktionäre Pfitzner auch politisch war und weiterhin ist.]
Es war eine Lesung im Literaturhaus Berlin, zu der ich aus einem allerdings nicht von mir selbst geschriebenen Roman vortragen wollte; jedoch hatte ich ihn als einen „Meilenstein der Postmoderne“ angepriesen und mit Negts und Kluges „Geschichte und Eigensinn“ verglichen, ein Buch, das nun freilich auch schon kein Roman ist. Aber solche Kategorienverschleifung läßt man mir unterdessen widerspruchslos durchgehn. Jedenfalls hatte ich mein Honorar längst überwiesen bekommen und stand nun in der Pflicht, dieses vorgeblich phänomenale Ding vorzustellen. Es war sogar ein bißchen Publikum da.
Ich schlage den ziemlich dicken, aber kleinformatigen Band auf und beginne zu lesen. Da stehen Blatt für Blatt nur Zahlen am Anfang, wie Quellen-, Seiten- und Jahresverweise, manches in römischer Numerik, wieder anderes sehr klein-, aber fettgedruckt. Ich lese diese wie zusammenhanglosen Zahlen vor. Erste, sofort von mir wahrgenommene Irritation bei den Hörern, weshalb ich weiterblättere, um nach durchlaufendem Text zu suchen. Aber es folgen nur Comics, in denen es höchst selten sprachgefüllte Sprechblasen gibt, dazu Landkarten, Stadtpläne, Reproduktionen barocker und klassischer Radierungen, kaum je kommentiert und schon gar nicht mehr ausgewiesen. Wie auch? Die Angaben waren offenbar sämtlich zu Anfang des Buches gemacht.
Die Sache ist mir höchst peinlich. Ganz offenbar habe ich dieses Buch nicht gekannt. Das Publikum murrt. Die Lesung streicht stumme blätternde Minute für die nächste, wiederum stumm umschlagende Minute vorüber. Manchmal lese ich eine Seitenzahl vor oder versuche, die Sprechblasen durch eigene Fantasie aus dem Stegreif zur Geschichte zu ergänzen. Der Veranstalter, um mich zu retten, steht auf, interpretiert meine Hilflosigkeit als postmoderne Performance, die aufs Vergehen der Schriftkultur hinweisen will, ich lächle verwirrt. Dann kommt mir der stotternde Gedanke, die Lesung in die Realität zu verlegen: Wir wollen gemeinsam einige der von den Stadtplanfitzeln gezeigten Berliner Orte besuchen.
Tatsächlich gehen ein paar der Hörer mit, aber sie werden nach und nach auf dem Weg verloren. Es ist Nacht, es hat geregnet. Mit freiem Oberkörper steht jemand, den ich nicht kenne, in der vor Nässe glitzernden, von allem Verkehr verlassenen Straße bei mir, neben ihm mein Sohn, indessen ohne Gesicht. Nur wir drei. Wir stehen vor einer engen Hinabfahrt: Es geht mit einem einsessligen, offenen Seillift in die Tiefe. Hier seien, entnehme ich dem Buch, früher Freiwillige hinein, um Nierenschutze zu testen. „Achten Sie auf Ihren Körper, berühren Sie nichts.“ Ich fahre allein hinunter, sitze mit hoch angezogenen Beinen da, damit meine Füße nirgends gegenstoßen. Ich habe die Ellbogen dicht an den Körper gezogen. Die Durchfahrt ist eng, die Wände weißer, großporiger Fels. Ganz unten stehen rauchende Lachen, Pfützenteiche, eine Höhle, steinerne Stege zwischen den Steigen, auf denen immer mal wieder, die Knotenzipfel oben, eine durchsichtige Plastiktüte liegt, in die Wasserproben gefüllt worden sind und die über diesen Lift eingesammelt wurden, vielleicht immer noch werden. Es riecht spitz, riecht nach Fixierbad, wie in Dunkelkammern. Ich atme nur sehr flach, ich fürchte, daß mir schlecht wird. Da geht die Fahrt zu meiner Erleichterung wieder hinauf. Jetzt gibt es an der rechten Wandseite kleine Auqarien, Wasserwürmer, im Wasser lebende mehrgliedrige Tausendfüßler darin, die eine rote, sozusagen verschwemmte Farbe haben und deren Beingewimmel flösschengleich flirrt.
Als ich oben angekommen bin, macht mir der Mann, der auf meinen Jungen achtgab, Vorwürfe, daß ich ihn einfach so draußenließe. Gleichzeitig zeigt er auf ein vielleicht zwei Meter hohes Marmorrelief, das über der LiftEinfahrt angebracht ist. „Es ist“, sagt er, „als hätten die Leute früher dauernd den Tod inszeniert.“
Wir steigen auf sein Moped (eine „Schwalbe“), ich sitz hinter ihm; wo mein kleiner Junge bleibt, weiß ich nicht, aber das fällt mir jetzt erst auf. Wir fahren ins Freie, es gibt nasse Büsche, dann schon Wald, eine Dschungel. Immer wieder suche ich in dem Buch nach dem Weg. Schließlich ein flaches nord- oder ostdeutsches Feld, auf dem ich erwache.