Die kommende – oder die sterbende – Literatur.

Man wird eines nahen Tages völlig anders lesen als bislang, nämlich nicht mehr chronologisch. Daß Literatur eine ästhetische Form entwickelt, die darauf vorbereitet ist, daran arbeite ich derzeit auf Hochtouren. Ich bin überzeugt davon, daß sie andernfalls stirbt.

(Die meisten Autoren und Leser sind nekrophile Totengräber; zum Teil leichenfleddern sie sogar. Ihre Sentimentalität, die ein Ausdruck unbewußt wirkender – und berechtigter – Angst ist, schützt sie davor, das zu begreifen. Deshalb sind sie schuldlos.)

8 thoughts on “Die kommende – oder die sterbende – Literatur.

  1. die malerei versucht das schon seit bald hundert jahren, die literatur hats da naturgemäß schwerer. ich denke mir das oft, und wie wenige wirklich daran arbeiten, diese neue äshtetische form zu entwickeln, kaum anerkennung, und schon gar nicht von den vielen. denn es gehört kompromißlosigkeit dazu, wie die ihre, und die weigerung, sich dem vertrottelten und verlogenen literaturbetrieb anzuschmiegen etc etc.

    1. Malerei hat den Vorteil. Daß man sie immer noch – zu ihrem entsetzlichen Ekel, freilich – als Dekoration nehmen kann. Das geht bei einem Buch nicht. Auch nicht im Netz, worin sich ja eigene Literaturformen entwickeln, die wiederum mit der Buchform korrespondieren. In dieser Hinsicht sind Literatur und Musik einander sehr ähnlich: Künste, die Z e i t brauchen.

  2. Verzeihen Sie: Warum wird man eines Tages anders lesen als bislang? Und wer ist man dabei? Bis wann war bislang?

    Ich zweifle am zwingenden Verlust der zeitlichen Reihenfolge. Er ist eine Möglichkeit, eine, die vielleicht noch nicht ausgelotet, aber jedenfalls entdeckt ist; er ist wohl kaum eine notwendige Entwicklung, denn wie bei allen diesen Verlusten (des Erzählers, des Ortes etc) steht eine Sehnsucht nach der Geschichte dagegen, eine Art menschlicher Invariante, ein mitgegebenes konservatives Element, wie mir scheint, das aber auch dankenswerterweise dafür sorgt, daß Avantgarden Avantgarden bleiben können.

    Geschichten ergeben nur chronologisch einen Sinn (wenn wir davon ausgehen, daß der Verzicht auf Chronologie mehr ist als nur eine Bastelaufgabe: Na, sortiern’se ma, lieber Leser). Ohne chronologisch zu sein, ergeben sie ein Gefühl, ein Wie-es-ist-in-dieser-Geschichte-zu-sein, das ist viel, aber keinen Sinn, keine Moral (verstanden als Erklärungsmodell für Wirklichgeschehenes). Davon scheinen wir abzuhängen.

    Die Komplexität der angebotenen Modelle, die Auflösung der Schemata zu erhöhen, die vor die Welt gehängt werden, könnte die dringlichere Aufgabe sein, als die Literatur auf etwas vorzubereiten, was von außen über sie kommt. (Literatur ist das Gegenteil von Harry Potter, wohl wahr.) Nichtchronologisches ist dafür ein Mittel, kein Zwang aus den Gegebenheiten.

    Zur nekrophilen Totengräberei bekenne ich mich indeß gerne, als Leser ohnehin, da bin ich formbar und auch für die Toten zu haben. Hätte ich das Privileg, Autor zu sein: Auch hier hülfe Nekrophilie mehr, als sie schadete, scheint mir. Wenn die Klischees wieder funktionieren, fühlt sich der Nekrophile wohl. Vielleicht sind Sprach-Menschen, die mit einer wirklich gesprochenen Sprache arbeiten, immer nekrophil in diesem Sinne.

    Nachtrag: Man könnte meine ganze längliche Sinniererei auf die Frage zusammenschnurren: Wann ist Literatur tot?
    Ich vermute ja: Wenn sie nicht gelesen wird oder wenn sie nur längst gesagtes anwärmt.

    1. wenn sie nicht mehr gelesen wird (ausser von schülern, studenten und pensionisten).
      und selbst dann nicht, weil es so ist:
      „himmel und erde müssen vergehn
      aber die musici, aber die musici, aber die musici
      bleibet bestehn“ 🙂

    2. Nicht die Geschichte wird aufgegeben. Das wäre Unfug. Die Geschichte wird bleiben, allein, weil wir l e b e n. Was ja schon seinerseits eine Geschichte ist. Sondern es geht um die Wahrnehmungsweise der Geschichte, vor allem um ihre nicht horizontale, sondern vertikale Ausdehnung, d.h. um Gleichzeitiges. Die kybernetischen Welten, die uns weitgehend bestimmen (ich meine das sehr konkret: in Krankenhäusern, Forschungslaboren; die gesamte städtische Infrastruktur ware ohne sie nicht denkbar), verändern zugleich unser Selbstbild, indem sich nun Persönlichkeitsanteile ausleben lassen, die vordem verdrängt worden wären. Es wird deutlich, daß wir nicht stetig, sondern distinkt sind, d.h. in Sprüngen wahrnehmen und selber Sprünge s i n d. Man hat einmal, nach Hegel, widersprüchlich dazu gesagt, es bloß nicht radikal genug, nicht anthropologisch gemeint. Die Konsequenzen sind tatsächlich kaum vorhersehbar.

      “Man” wird also eines Tages anders lesen, weil sich die Modi unserer Wahrnehmung verändern. Machen Sie sich das an der atemberaubenden Geschwindigkeit klar, mit der Jugendliche auf Reize in Computerspielen reagieren; ein gegenwärtiger Erwachsener ist da total überfordert (interessanterweise mißt Pisa einen solchen Bldungsinhalt n i c h t; man w i l l , vermute ich, es unbewußt auch nicht lesen). Oder daran, daß die ersten Eisenbahnfahrten für die Menschen physiologisch unerträglich waren: Viele hielten Geschwindigkeiten von 40 km/h nicht aus und kippten einfach um. Oder schrien. Bei der Uraufführung von Ravels Bolero fielen Hörer in Ohnmacht, derart entsetzlich war ihnen der neue akustische Reiz.

      Die Entwicklung braucht einige Jahre, vielleicht Jahrzehnte, aber sie ist bereits meßbar. Das, davon bin ich überzeugt, hat Literatur, hat Dichtung zu reflektieren – daraus hat sie, sehr wohl, Geschichten zu formen. Wenn sie denn nicht sterben oder ein Vergnügen für sentimentale Wenige werden will. (Der Spielfilm, in seinen avancierten, nicht-manipulativen Formen, ist ihr bereits weit voraus.)

      Daß ich auf die Chronologie der Geschichte abstelle, hat mit der Zeitform von Literatur zu tun. Den Bildenden Künsten ist so etwas ja gar kein Problem (dafür anderes sehr wohl). Ich versuche es am Fundament und habe in einigen Romanen gezeigt, daß das mit der Geschichte sehr wohl zusammengeht. Weshalb ich gegen das Konservative gar nichts habe, nur gegen das normative-Konservative, sagen wir: den Ruf nach dem “Guten”. Nicht absichtslos wird von einer Achse des Bösen gesprochen, und Leute wie Broder halten eine vorgeblich gute Achse dagegen.

      Daß Geschichten nur chronologisch einen Sinn ergeben, bestreite ich erst einmal nicht, auch wenn es mich juckt. Die Frage ist, was unter Sinn verstanden wird. Jedenfalls für mich n i c h t, wenn “Klischees wieder funktionieren”.

      Aber – *lächelnd* – ich vergaß ganz, Sie zu bitten, Herrn Hoffmann einen Gruß auszurichten.

    3. Man stirbt nicht so schnell an schneller Wahrnehmung, wenn man die Literatur ist. Da bin ich doch recht zuversichtlich.

      Zu besagten Jugendlichen gehörte ich noch vor nicht allzulanger Zeit selbst: Ich lernte damals gleichzeitig Fechten und „Doom 2“. Mit einiger Belustigung stellte ich fest, daß man in beiden Duellspielen dieselben Fähigkeiten trainierte: Den Reflexen nicht zu vertrauen, aber ihre Geschwindigkeit zu nutzen. Sie ahnen schon, worauf ich hinaus will: Gefochten wurde schon immer.

      Natürlich ändern sich die Wahrnehmungsgewohnheiten, wer würde das bestreiten wollen. Wir gewöhnen uns an das Tempo unserer Maschinen, soweit wir eben können. Und die alltägliche Tatsächlichkeit des Kybernetischen macht einen ja manchmal staunen darüber, was für ein simples Ding doch ein Gasherd ist und wie rührend einfach die Grenzen zwischen Technologie und Biologie in einer Küche zu ziehen sind.

      Nur, gerade wenn Sie Spielfilme nennen: Es stimmt zwar, man schneidet jetzt schneller. Nur geht das merkwürdigerweise fast immer auf Kosten dessen, was ich (schwammig und mit einem naiven Begriff, zugegeben) Sinn nenne. Je schneller die Dinger geschnitten sind, desto weniger weiß ich üblicherweise hinterher, was sie von mir wollten und was ich damit anfangen soll. (Was ich unter Sinn verstehe, ist also eine formulierbare Antwort auf die Frage: Was bedeutet das für mich? — formulierbar, aber die Sache nicht erschöpfend.)

      Nun könnte ich mich natürlich selbst unter den Verdacht stellen, einfach zu alt zu sein für diese Filmindustrie und mir sagen: Wenn du nochmal so schnell wärst wie die Kids, verstündest du’s. Aber ich zweifle daran. Die Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten findet statt, aber es sind auch nicht mehr dieselben Stoffe, die angeboten werden, weil die neuen Formen bestimmte Stoffe einfach nicht aufnehmen.

      Insofern stimme ich Ihnen zu: Es gibt die Fragmentierung des Erlebens. Nun kann man sagen: Die Kunst gehe hin und finde Stoffe, die in die neuen, zerhackten Formen noch passen, alles andere ist sentimental und hat überdies einen widerwärtig erzieherisch-normativen Anspruch. Das ist respektabel, allein, ich glaube nicht, daß es geht. (Ihre Romane kenne ich noch nicht, was jetzt freilich geändert wird.) — bestenfalls entstehen Sachen, deren Ambitioniertheit man respektieren kann. Meist frisst die umgarnte, schnellere Ästhetik jede Geschichte, weil sie nicht anders kann. ( Aber ich lasse mich überzeugen — wenn Sie von Filmen sprechen: Was würden Sie denn anführen, an nicht-chronologischen, schnellen Filmen, deren Was-es-ist-dieser-Film-zu-sein über ein „Schnell, Seltsam!“ hinausgeht, die also nicht nur die Verunsicherung durch die Veränderung der Modi auslösen?)

      Die Sache mit den Klischees ist natürlich ebenso riskant, sie haben ihren schlechten Ruf zwar zu Unrecht, aber aus zahlreichen guten Gründen. Um mich da zu erklären: Ich glaube, ich habe das bei Gaddis aufgeschnappt in diesem 80er-Jahre-BBC-Interview. Es funktioniert bei ihm ja auch sehr gut. Er sieht die Fragmentierung passieren, er geht sogar formal mit, macht aber die Geschichten selbst so linear wie möglich und nimmt keinerlei Rücksicht auf die Klischeehaftigkeit dessen, was er da tut — das ist gut und funktioniert, ohne je sentimental oder etwas für Sentimentale zu werden. Die Fragmentierung, die Veränderung in Kommunikation und Wahrnehmung, wird erfahrbar — und die Sorte Geschichten, die sich unter diesen Verhältnissen abspielen. Ohne daß er sich der schnelleren Ästhetik fügt, gerade weil er es nicht tut, würde ich behaupten.

      (Sie ertappen mich mit ihrem Vorwurf von Normativität natürlich. Nun will ich gar nicht gern mit Broder in einen Sack, drum bestehe ich drauf: Wenn ich hier von „gut“ spreche, dann geht es nicht um die scholastische Kategorie des moralischen Guten, sondern lediglich darum, was man um der Kunst willen haben will, und um ihretwillen wollen ja auch Sie haben.)

      Ach: Der Tote grüßt, aus seinem Eulengesicht beidäugig zwinkernd, zurück.

    4. „Man stirbt nicht so schnell an schneller Wahrnehmung, wenn man die Literatur ist.“ Na ja. Manches ist bereits tot, während es noch auf dem Rasen herumzutollen oder Tennis-Matches zu gewinnen glaubt.

      Daß immer schon gefochten wurde, ist ein nicht weniger gefährlicher Satz: Er stellt immerhin das Kontinuum als Behauptung hin, das ich in einigen Texten ästhetisch herzustellen versuche: Gleichzeitigkeit als Erklärung für das immer wieder zu beobachtende Vermögen dessen, was Allegorie genannt wird, sich in Einzelnen aufs Neue zu materialisieren; ich sprach in diesem Zusammenhang von “Mustern”, die sich – mythisch, also modellhaft gesprochen – ihre Träger “suchen” und durch sie wirken. Vielleicht ist das damit zu vergleichen, daß wir in der Natur sehr häufig auf immer dieselben Formen stoßen, unabhängig davon, daß der einzelne Form-Träger selbstverständlich zugleich Individuum ist. Aber es geschieht ihm etwas, das außerhalb seiner selbst den Anfang nahm. In einigen meiner Erzählungen habe ich das darzustellen versucht, immer mit sinnlicher Erdung, versteht sich; dazu ist es ja Literatur und nicht pure Thorie.

      Bezüglich der Wahrnehmungsveränderungen meine ich, daß der Prozeß gerade erst begonnen hat; in derselben crescendierenden Geschwindigkeit, die seit der Industrialisierung um sich greift, wird davon das Mnschenbild betroffen werden, und zwar bis hin in organische Veränderungen. Teils bringen sie sich die Individuen selbst bei. Denken Sie an Piercing und Mutilations. In dem Zusammenhang verweise ich immer gern auf Cronenbergs “Crash” nach Ballard (schlechtes Buch, extrem guter Film). Wenn Sie einen Blick in meinen Aufsatz “Das Flirren im Sprachraum” werfen, muß ich mich hier nicht wiederholen. Sie finden ihn auf der fiktionären Homepage http://www.die-dschungel.de/ANH unter “Essays”.

      Wahrnehmungsveränderung wird eben auch Veränderung menschlicher Formen bedeuten; mit Harraway gesprochen: Hybridisierung. Auch darauf beziehen sich viele meiner Texte immer wieder. Wobei das interessanterweise nicht aus der Theorie kam, sondern meine theoretischen Überlegungen haben sich aus der “Eigen”Bewegung der Erzählungen ergeben.

      Und meinen Sie tatsächlich, ein “Sinn” müsse definierbar sein? Wäre er dann nicht tautologisch? Denken Sie an den Aufstand, den es wegen der vorgeblich falschen Horneinsätze in Beethovens Eroica gab… oder an die Revisionen, denen man den späten Bruckner unterzog, bis jetzt erst Hanroncourt die originale Partitur zum Klingen brachte. Oft ist ein angeblich Falsches nur neu und braucht Gewohnheit. Van Gogh hätte möglicherweise für Sie wie für mich “sinnlos” gemalt, wären wir sein Zeitzeuge gewesen.

      Auch das ist nicht neu. Aber die “Gewöhnung” nimmt an Geschwindigkeit ebenfalls rapide zu… sofern man nicht, da sind wir wieder bei Harry Potter, unbedingt regredieren möchte und deshalb, wie Sigrid Löffler und Michael Maar, das Kinderbuch zur Weltliteratur erhebt (“Warum Nabokov Harry Potter geliebt hätte”, heißt so ein Unsinnsprodukt, ausgerechnet von Maar). Darüber hinaus gibt es einen Umbruch von Quantitäten in neue, andere Qualität; das läßt sich nicht mehr völlig trennen. Noch Goethe stieß seinen Gehstock gegen die Kutschendecke und rief: “Nicht so schnell, ich kann ja gar nichts sehen!” Legen Sie das einmal auf die Folie von etwa James Dean.

      Und ehe es hier jetzt zu lang wird, nur noch eines. “Die Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten findet statt, aber es sind auch nicht mehr dieselben Stoffe, die angeboten werden, weil die neuen Formen bestimmte Stoffe einfach nicht aufnehmen.” Dafür hätte ich gerne ein Beispiel. Mir fällt ganz im Gegenteil auf, daß gerade a l t e Stoffe, gerade auch mythische, sich nirgendwo und niemals besser augensinnlich realisierten, als eben im Film… und in der Neuen Literatur (Gaddis “Fälschung der Welt” ist dafür ein extrem gutes Beispiel, also f r ü h e r Gaddis. Der, der mit dem Teufel spielte.)

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