DTs. (26. Januar 2006).

Stuttgart.

7.44 Uhr:
[Händel, Cembalo-Suiten.]

Erst halb acht aufgewacht, da bis spät hinein im Fernsehen Götz George zugeschaut, wie er beeindruckend und beklemmend und mit diesem ständig fragenden, auch leeren Gesicht die Geschichte des Auschwitz-Lagerkommandanten Franz Lang… ja, ich scheue mich zu schreiben: spielt. Der Film war erst gegen halb drei nachts zuende, da quälte mich die Magenattacke vom späten Vorabend immer noch. Beim Aufwachen war der Raptus vorbei. Jetzt eben das DTs von gestern komplettiert und dieses hier geschrieben. Ich werde es nachher vom Büro der MUSIK DER JAHRHUNDERTE aus einstellen.
Jetzt erst einmal so viel frühstücken, daß es über den Tag reicht. Vielleicht ein paar Brötchen und Obst “klauen”.



Tagesplanung




10 bis 17.30 Uhr:

LEERE MITTE: LITITH. Probe 3.
(Glashaus).

18 Uhr:

Requisite- Besorgungen (MP, Uniform etc) in der Stadt.

22 Uhr:

Treffen mit Florian Höllerer/Literaturhaus Stuttgart, dort.






13.50 Uhr:
[Dallapiccola, Il prigioniero.]

Kurz ins Hotelzimmer, hab mich für die Pause von den anderen absentiert, da ich kein Geld fürs Essengehen habe und keinen in eine peinliche Situation bringen oder ‘nötigen’ möchte. Hab heute früh Obst aus dem Frühstücksraum mitgenommen, das futter ich und trink eine in Wasser aufgelöste Magnesium-Tablette; so bleib ich leistungsfähig. Immerhin konnte ich nun e-Post erledigen und auch Die Dschungel einigermaßen aufs Laufende bringen. Es wäre eh keine Zeit für Mitagessen (leider auch nicht für den Schlaf). Bauchschmerzen sind weg, dafür läuft dauernd die Nase. Verschiebung?
Es sieht so aus, als befreundete ich mich mit Isherwood, der im März in Berlin einen Gesangsabend geben und dann in der Staatsoper eine neue Zender-Produktion singen wird. Ich hab ihn auf Schoecks Penthesilea angesprochen; er wär ein wunderbarer Achill. ARGO ist derzeit weit weg, trotz der Kleist-Homer-Assoziation.

Nachtrag:

Mittags, kurz bevor ich zu den nächsten Proben aufbrechen muß, Anruf von Ralf Schnell auf dem Mobilchen: Er habe mit dem Verlagsleiter von Kiepenheuer gesprochen, da sei durchaus Interesse an meinem Werk, man werde mich anrufen. Schnell wie immer s e h r rührig, s e h r gezielt. Und – überzeugt. Wo bliebe ich ohne die Freunde? Wo ohne die auch vom Fach? Die ja Freunde wurden, n a c h d e m sie meine Arbeiten kennengelernt hatten und d e s h a l b Kontakt suchten. Das bereitet eine dann doch ruhiges Gefühl. Habe dann abends einmal die Rechtesituation der mittlerweile fünfzehn Bücher skizziert. In drei Fällen sind die Rechte völlig frei, wichtig ist da vor allem DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS, die auch dringend einer sichtenden Zweiten Hand bedürfte. Jedenfalls ein Hoffnungsschimmer.

Die Probe.
Danach mit RHPP in die Stadt, eine Maschinenpistole für die Szene besorgen, ab in die Faschingsabteilungen. Schließlich entschieden wir uns – mangels Auswahl – für einen Revolver mit langem Schalldämpfer. Das Ding mag angehen; für eine spätere Aufführung sollte es aber wirklich das gemeinte LMG36 sein.

RHPP zog zu einem Freund ab, ich spazierte durchs klirrend kalte, abendliche Stuttgart, das halb ausgestorben, halb gedrückt und müde, halb aber auch seltsam metropol wirkt. Das ist mir schon aufgefallen, als ich vor zweidrei Jahren einmal für eine Veranstaltung mit Hettche hierwar. Der Berliner Platz gehört mit der Liederhalle und dem angeschlossenen Bosch-Bau, worin sich das Literaturhaus befindet, zu einem der schönsten städtischen Räume, die ich kenne. Man kann wirklich den Eindruck von Weltstadt bekommen, rein übers architektonische Ensemble, und zwar obwohl die übertag fahrenden U-Bahnen den Eindruck von Straßenbahnen machen.
Bei einem kleinen, einigermaßen preiswerten Chinesen eß ich etwas; ganz ohne eine warme Mahlzeit komm ich nun doch nicht aus.
Schließlich ins Literaturhaus hinüber. Eine beeindruckend schöne Blondine hinter dem Tresen: sehr kühl, sehr hochgewachsen, sehr schlank, das Haar aufgesteckt. Stünde mir nicht die Erkältung wässrig bis in die Augen, ich hätte sie angeflirtet. So fühl ich mich von vornherein disqualifiziert und blättere, obwohl sie immer mal herschaut, angestrengt in ein paar Cybernet-Prospekten. Dann, ich will gerade hoch zu Höllerers Büro, fängt er selbst mich unten im Restaurant ab. Dermaßen weich ist mein Kopf, daß ich ihn gar nicht bemerkt hab. Ich bin heute ein schlechter, sehr schlechter Beobachter, gar nicht gut für einen Autor. Immerhin kommen wir schnell ins Gespräch, entwerfen ein paar Projekte. Im Spätherbst soll es eine Cyber-Literatur-Veranstaltung geben, in deren Rahmen ich vielleicht irgendwie noch mit hineinkann. Darüber werden wir nachdenken. Dann setzt sich der griechische Inhaber der Restaurants zu uns, kommt gleich mit einer Flasche roten Weines, bald schon mit einer zweiten. Gut, daß ich etwas gegessen habe, sonst hätt ich das kaum verkraftet. Eine Reihe von VIPs um uns her, alle werden aufs herzlichste begrüßt… die Autorenberuf ist schon seltsam: mit einem Bein steht man im Obdachlosen-Asyl, während das andere auf den Parketts der High Society tanzt. Vielleicht gehört dieser Spagat dazu, um Wirklichkeit(en) tatsächlich erfassen und gestalten zu können. Und auch, daß manches an einem dann so ungelenkt wirkt, erklärt sich aus dieser höchst angespannten Körperhaltung; mit einem Bein zu tanzen geht ja nicht.

Kleine Diskussion mit Höllerer über Erzählverhalten. Es gebe noch keine angemessene Ästhetik für die Wirklichkeit der Neuen Medien, meint er. Ich halte sofort die Großen dagegen, Joyce, den jungen Gaddis, Pynchon, auch Marianne Fritz. “Aber das verkauft sich schlecht”, sage ich. “Das verkauft sich g a r nicht”, sagt er. Es verkauft sich nur der Regreß. “Dann wird die Literatur sterben”, sage ich. Aber später, auf dem Heimweg, fällt mir ein, daß ich möglicherweise sogar d a r i n zu optimistisch bin: Vielleicht wird Literatur tatsächlich bleiben, aber als d i e Matratze der Rückständigen, hübsch mit Kissen dekoriert und allerlei Narrations-Plüsch, aber eben genau da rettungslos unrealistisch, wo der Realismus gespielt wird.

Und nachts, in der U-Bahn-Station Hauptbahnhof, zwei Penner. Einer liegt auf dem Binario gegenüber in einem Schlafsack, der andere sitzt auf einer Bank. Beide wirken gepflegt, aber d e s h a l b aggressiv. Sie sprechen miteinander abfällig, teils einander bedrohend. Der Liegende kommt aus Norddeutschland, dem Zungenschlag zufolge, der andere ist Schwabe. “Du, ich habe keinen Tabak.” “Wenn Du was von mir willst, komm doch her!” Und schlägt mit den Fingerknöcheln, als wären sie Schlagring, auf das Holz der Bank. Da löst sich eine junge Frau aus den Wartenden und gibt den beiden jedem eine Zigarette. Ein gute Geste, m e h r als eine Geste. Sofort legt sich die Aggression. Der Sitzende, Drohende, steht sogar auf und reicht dem Liegenden Feuer. Sie sitzen dann näher beieinander, der eine wieder auf der Bank, der andere am Boden im Schlafsack, aber gegen die Wand gelehnt. Und rauchen schweigend. Und draußen sind es knapp zehn Grad Celsius unter Null. “Die Obdachlosen sind das lebendige schlechte Gewissen der Ökonomie”, notiere ich zwei Minuten später in der Bahn.

[Nett, die grammatikalischen Volten in dem Text hierüber: Vom nächsten Tag aus teilpräsentisch geschrieben, verwischen die Tempi.]

Arbeitsfortschritt:
LEERE MITTE: LILITH. Proben.