Das Artifizielle (2).

Dem literarischen Neo-Realismus entspricht die Tonalität in den Pop-Künsten. Beide w o l l e n den Schein. Der Pop vermittels der Melodie, die Literatur vermittels ihres erzählten Inhalts. Melodie und Plot werden, derart geschmiert, zu Interessenvertretern der Ökonomie.

[Aus den Vortragsskizzen für Braunschweig (ff).]

32 thoughts on “Das Artifizielle (2).

  1. „Literatur ist zum reinsten Betrug geworden. Sie will verbergen, daß sie Literatur ist, daß sie also geschrieben wird. Sie gibt sich heuchlerisch als Aktion aus, will von selbst in unseren Kopf springen, durchs Auge, und sich dort wie ein Bild der Erinnerung verkriechen. Der Roman, das Gedicht, schläft und sieht sich selbst auf dem Bildschirm. Wer liest heute Buchstaben, wer sieht Wörter, wer genießt ihre grammatischen Verknüpfungen? Alle verschlingen Seiten, fressen Absätze und verwandeln sie schon zwischen den Wimpern in Kinobilder“.

    (Wladimir Maramsin)

    [wobei sich mir die Frage aufwirft, gleichsam anbietet, was den Neo-Realismus vom Neo-Mystizimus unterscheidet….]

    1. nein … … trifft allenfalls auf schlager + brigitte-literatur zu.
      „pop“ ist ein hochartifizielles spiel nicht nur mit zeichen und oberflächen, sondern auch mit stimmen, hörbaren und/oder literarischen, um dann am ende die evidenz einer künstlichen „natürlichkeit“ zu erzielen. die durchaus komplexe intelligenz und ästhetische programmatik von pop ist im wesentlichen eine kollektive leistung (nicht mehr: bürgerlich-genialisch). was natürlich immer noch nichts über gut/schlecht aussagt, es gibt weiß gott ästhetisch zu verwerfenden pop, sehr wohl aber über interessant/relevant vs. uninteressant/irrelevant.

    2. Bisher kenne ich das immer nur als B e h a u p tun g. Ließ ich mir das behauptete vorspielen, so daß ich h ö r t e (vom Notenmaterial einmal ganz zu schweigen), kam letztlich immer nur ein Wiener-Klassik-Bastardismus dabei heraus, also retardierte Form, die sich auf Tonalität kaprizierte. Die kollektive Leistung sei freilich nicht bestritten, insofern sie die arbeitsteilige der Industrieproduktion widerspiegelt. Auch komplexe Intelligenz stimmt sicher: allerdings besitzt die jeder gute Marketing-Agent von Daimler Chrysler auch. Und zu demselben Zweck.

      P.S.: Ans Kollektive – an irgend eines – zu glauben, bedeutet, die Erfahrung mit Hitler-Deutschland zu vergessen und das, was Hitler-Deutschland t r u g.

    3. Ausführende. Nicht empfangende (konsumierende). Vorsicht, hier lauern Differenzen. Einsemblemitglieder, sofern demokratisch organisiert, wählen einander sehr genau aus: nach Fähigkeiten, die individuell sind, oder, um es bitter zu sagen: vereinzelt.

    4. „kollektiv“ … … hier eher im sinne von ants, emergence, web und all dem. oder von rock’n’roll als kunstform. oder warhol, oder punk, oder. was sie da stört, ist glaube ich, dass pop (fast) nie „werke“ hervorbringt, sondern eben „projekte“. wobei die grenzen zwischen dem einzelbeitrag (popsong, geste, posting …) und dem allgemeinen popzeichen-rauschen mehr oder minder programmatisch verschwimmen. unter diesem gesichtspunkt kann (nicht: muss) dann auch schlechte pop-literatur ein größerer beitrag zur zeit- und selbst-erkenntnis sein als das hochliterarische werk.

    5. That’s right. Und das gilt auch für jede Garagenband. – Ob Pop oder Nicht-Pop: es handelt sich um individuelle, aber auch um kollektive Leistungen; denn selbst die genialischsten sog. E-Komponisten stehen nicht abseits der Tradition und dessen, was um sie herum vorgeht. Komponisten gleich welcher Tradition (ob europäisch oder afro-amerikanisch etc.) haben ja die erfreuliche Gabe, zuhören und alles verarbeiten zu können, was sie verarbeiten wollen. Genau das haben sie auch schon immer getan. Für sie gab und gibt es keine Trennung zwischen E- und U-Musik. Die ist, wie so manch andere willkürliche Trennungen, ein spezifisch deutsches Phänomen, so wie der Glaube daran, die zeitgenössische E-Musik unterliege den kapitalistischen Produktions- und Distributionsbedingungen nicht im Prinzip genauso wie die sog. U-Musik. (Und nuu muß ich ausm Haus.)

    6. Das Hohelied der Affirmation. Jaja, alles unterliegt sowieso diesen Bedingungen, also nehmen wir das auch an und wollen es.

      Sorry, und wenn ich der einzige bin und bleibe, der da opponiert: Ich werde darauf beharren, daß es einen U n t e r s ch i e d gibt zwischen E und U. Daß es keinen gebe, ist eine „Idee“, die aus den USA stammt und gerne so tun möchte, als hieße Konsalik mit Nachnamen in Wirklichkeit Kafka. Und Madonna, die g a r keinen hat, habe einen musikalischen Rang wie John Cage. Die Dschungel bestehen, gerade wegen ihrer formalen Wildheit, auf dem Unterschied. Wer nicht darauf besteht, ausnahmslos, hat sich und die Kunst an die Leasing-Raten verraten. Ob er (sie) es weiß oder nicht.

      [Daß wir I m p u l s e – wichtige – aus den U-Künsten beziehen, ist hiervon völlig unbestritten.]

    7. @ http://morisken.twoday.net/ Ich gestehe zu, auf mir selber schlammigem Boden zu stehen. Aber die Erfahrung hat Drainagen bislang unmöglich gemacht. Wann immer ich mit Kollektiven in Kontakt kam, selbst mit kleinen Gruppen, wurde es von Anfang an katastrophal. In Schule und Gymnasium hatte allein mein Name gereicht, mich zum Aussätzigen zu machen. Niemand, weiß Göttin, benahm sich derart ausschließend und brutal gegen das Fremde, wie Jugendgruppen, die dem Pop zugetan waren. Das ist Erfahrung in der Haut. Die einzige Art, sich dagegen zu wehren (und die Jugendlichen paktierten da sogar mit ihren Klampfe spielenden Lehrern) bestand darin, k r ä f t i g zu werden. Bekamen diese Gruppen nämlich Angst, dann fingen s i e an, sich zu fürchten.

    8. Ein Machtkampf also, der mit dazu beigetragen hat, daß Sie „U“ verachten, weil Sie mit „U“ irgendwelche primitiven Pubertäter assoziieren. Ich wiederum, ebenfalls stets Außenseiter, habe bereits mit 10 Jahren nach jeder Art von Musik abseits des Mainstreams zu fahnden und alles zu hören begonnen, was auf welchen Instumenten auch immer erzeugt werden kann. Weder habe ich die erste Single von Pink Floyd auf BBC noch Henze oder Kagel oder Cage auf NDR III verpaßt: war also meinen Eltern, meinem Musiklehrer (der ähnliche Auffassungen vertrat wie Sie) wie meinen Mitschülern gleichermaßen rätselhaft. Das habe ich genossen, so wie Sie es noch heute genießen mögen, auf der Trennung zwischen „E“ und „U“ zu beharren. Aber unter „E“ fallen eben (wie Sie wissen) nicht nur Werke von Cage oder Kagel, sondern eingängige und populäre Werke des Barock und der Klassik; und unter „U“ fallen nicht nur die am Computer produzierten Hits, sondern auch kaum verkäufliche Klangexperimente aller Art, deren Erzeuger meilenweit von dem entfernt sind, was Sie unter „Pop“ verstehen, und sich einfach nur als Musiker sehen. – Im übrigen ist vieles von dem, was ich an zeitgenössischer atonaler Musik nachts im Deutschlandradio höre, ähnlich vorhersagbar wie tonale Musik. Nichts von alledem berührt oder irritiert mich, weil ich genau spüre: Jetzt kommt der Schock. Und dann kommt er auch, so sicher wie das Amen in der Kirche. Darüber witzele ich oft mit einem befreundeten Pianisten, der schon an zahlreichen Uraufführungen beteiligt war und weiß, daß es auch ein Geschäft mit der Neuen Musik gibt und sich gar nicht übel davon leben läßt: sofern man, wie im Literaturbetrieb, über die nötigen Beziehungen verfügt.

    9. Machtkampf: Nicht nur die Pubertierenden. Der Schulterschluß ging (und geht) über die Generationen hinweg und fand bei Pop und (früher) Folk zusammen, – also bei Musiken, die „dem Zusammenhalt“ dienten, Gruppenidentitäten fundamentierten und genau dafür auch zugerichtet waren. Auf dieses Herden- und Hordengefühl ist der Pop ja auch tatsächlich hinkomponiert; es ist nur ein anderes Wort für „Volkstum“, von dem wir in Deutschland nur z u genau wissen, wohin es führt. Und selbstverständlich haben Sie recht, daß das für Klassik und Barock ebenfalls gilt – wobei gerade der Manierismus es ist, was eine Barock-Musik das sehr oft umgehen läßt (weshalb ich bis heute manieristischen Kunstformen, weil sie elitär sind, anhänge). Tatsächlich sind mir auch viele klassische Musikstücke geradezu physiologisch widerlich; dazu gehört nicht weniges von Mozart und Beethoven („einen Beethoven ans Ohr kriegen und in Polen einmarschieren“ – so hat Pynchon das formuliert).

      Was die Betriebs-Interna anbelangt, stimme ich Ihnen wie für den Literaturbetrieb völlig zu. Und: Es gibt auch einen furchtbaren K i t s c h in der Neuen Musik. Auch da herrschen vor-musikalische Gruppen-Absprachen und Einverständnisse, die manches gut sein lassen, obwohl es schlecht ist oder doch – meistens – öde mau. Und Professoren bestimmen die Richtung, die Professorenmusiken schreiben. Das ist aber insgesamt weniger gefährlich, weil M a r k t (also international) mit Musiken gemacht wird, die von vornherein auf Massenwirkung angelegt sind. Nicht Hans Zender, sondern Prince löst doch in der steng islamischen Welt mit Recht dieses Gefühl einer überbordenden, das Eigene unterkriechenden Invasion aus, gegen die es sich nur noch gewaltsam wehren läßt – und zwar gewaltsam mit Mitteln, die in der gegebenen Situation zumindest k l e i n e Siege versprechen. Wozu ein clausewitzscher Krieg nun sicher nicht zählt.

    10. neinnein … … der ursprung und der inbegriff von pop (als kunst) ist ja nicht die clique, sondern die einsamkeit. (ebenfalls eigene schulhof-erfahrung.) das radio im schlafzimmer. das [link:] teenage wasteland. und das „kollektiv“, das so entsteht, vernetzt die einsamen, sehnsüchtigen, unzufriedenen auf ein art und weise, dass etwas neues entsteht.

    11. Da wurden wir dann völlig verschieden sozialisiert. Mich stießen Ihre Einsamen gemeinsam und bissig aus und paktierten dabei mit ihren Lehrern. Daß Sehnsüchtige zueinanderfinden konnten, war eine Erfahrung, die mir erst 1973/74 die pro musica nova Bremen vermittelte; ich hab da Wolf Vostell, Stockhausen und Hans Otte enorm viel zu verdanken. Und meinem Berufsschullehrer, der mich in den Kreis hineinbrachte.

      Pop-Anhänger habe ich mein Lebtag nie allein erlebt, sondern immer in der Rotte. Und so benahmen sie sich auch. (Erst heute sehe ich bisweilen nachdenkliche, sensible Leute darunter, wie Meineke etwa.)

    12. I’m so lonely I could die … Was Sie, ANH, mit „Pop-Anhängern“ erlebt haben, ist das eine; was alles „Pop“ umfassen kann und wer diese Musik hört, ist das andere. Ähnlich verhält es sich mit Wagner: der ja von Hitler & Co gefeiert und im Rudel (Bayreuth) gehört, aber eben auch von Thomas Mann verehrt wurde. Die Niedertracht der Musik besteht nicht zuletzt in ihrer Ambivalenz.

      Was Sie unter „Pop“ verstehen (eine auf die Horde hinkomponierte Musik), zählt zwar auch dazu, ist aber nicht alles: was die Geschichte des „Pop“sehr deutlich zeigt. Seine Wurzel ist bekanntlich die afroamerikanische Musik – und mit ihr Blues und Ragtime (also alles andere als Hordenmusik) ebenso wie ländliche Tanzmusik und Gospel, denen in der klassischen europäischen Musik die weltliche Tanzmusik und die sakrale entspricht. Demgemäß auch sind viele Klassiker der „Pop“-Musik nicht auf irgendeine Horde hinkomponiert, sondern zuerst von Bluesmusikern im Süden der USA auf der Gitarre gezupft und erst sehr viel später populär geworden. Auch Elvis Presley hatte – wie sein erster Produzent Sam Phillips – keinerlei Hordenmusik im Sinn, als er in Memphis seine ersten Aufnahmen machte. Er sang nur die alten Lieder, die er von schwarzen und weißen Musikern gehört hatte. Daß und warum das alles seit 1955 in großem Stile unter dem Etikett Rock’n’Roll vermarktet wurde und zur Folge hatte, was Sie kritisieren, ist eine sehr lange und komplizierte Geschichte: ebenso lang und kompliziert wie die Geschichte der Wagnerrezeption.

      Genug, daß der „Pop“ nie nur die tumbe Masse angezogen hat, sondern auch Menschen wie mich, die stets jenen „Pop“ am liebsten hörten, der speziell in Deutschland kaum Anklang fand. Beispiel: The Beach Boys. Die wurden von den meisten Fans als Surf-Beat-Fun-Band geliebt oder verachtet; doch ihr Kopf Brian Wilson bastelte, während sie auf Tournee waren, zum Verdruß einiger seiner Mitmusiker an seltsamen Sounds, die herauszubringen seine Plattenfirma sich 1965 zunächst weigerte, weil sie gegen den Massengeschmack komponiert waren. Wie sie entstanden und mit welchem geradezu heiligen Ernst daran gearbeitet wurde, ist in der CD-Box „The Pet Sounds Sessions“ dokumentiert. Und bekannt ist mittlerweile auch, wie sehr sich die Beatles durch Wilson unter Druck gesetzt fühlten: nämlich so, daß sie zu „Sgt. Pepper“ angespornt wurden – ein Album, an dem sich die Geister schieden. Es enthält gefällige (aber sehr witzige) Stücke in der „U“-Musiktradition, aber eben auch „A Day In The Life“, das zwar als „Pop“ gilt, jedoch genausowenig im Radio zu hören ist wie „Strawberry Fields Forever“, „I’m The Walrus“ oder die Collage „Revolution # 9“ vom Weißen Album. In dieser Tradition ist jede Menge „Pop“ enstanden, der im Radio noch seltener zu hören ist als Neue Musik: nämlich gar nicht. Ich verweise nur auf die CD „Tilt“ von Scott Walker.

      Kurz: „Pop“ ist genauso vielfältig und als Begriff genauso nichtssagend wie „Klassik“; denn in beiden Bereichen gibt es Mainstream- und Minderheitenmusik sowie stumpfsinnige und intelligente Hörer. Zu diesen zähle ich mich – und weiß deshalb den „Jailhouse Rock“ von Elvis genauso zu schätzen wie „Strange Fruit“ von Billie Holiday, „Gimmie Shelter“ von den Stones genauso wie „A Love Supreme“ von John Coltrane, einen Countrysong wie „Dark End Of the Street“ von den Flying Burrito Brothers genauso wie ein Violinkonzert von Schnittke, die erste LP von Joy Division genauso wie die letzte von Estampie, Stücke von John Cale genauso wie Stücke von John Cage, Tanzmusik der Renaissance genauso wie diverse Disco-Hits von Michael Jackson, jawoll. To ev’rything (turn turn turn) there is a season (turn turn turn). Oder: Verdamme niemals, eh du ein Sach erkennet hast (Orlando di Lasso).

    13. ob nun im falschen oder richtigen thread – egal: die diskussion um „pop“ reduziert sich für mich – trotz aller seiner spielarten (jedes phänomen hat seine vielfältige und bunt schillernde phänomenologie) – dahingehend, daß immer auch nach schirmen gesucht wird, wenn’s regnet… auch schirme sind bunt…

      hitparaden-pubertät, die meine, und jahnnzheits-anwandlungen später…

    14. @ quirinus: Richard Wagner und die Folgen. Sie haben völlig recht mit den wagnerschen Horden. Mir geht es aber – sowohl aus persönlichen wie aus ästhetischen Erfahrungen – mit dem Pop wie Israel mit Wagner: Ich kann es nicht hören, ohne sofort an Unheil gemahnt zu werden. Nur schrieb Wagner – wie ja auch Beethoven, für dessen Sinfonik übrigens etwas ganz Ähnliches gilt – lange v o r dem Zweiten Weltkrieg. Es gab die Erfahrung speziell dieses Massenmords noch nicht. Deshalb die Anstrengungen Adornos n a c h dem Ende Hitlerdeutschlands (das ja von den Deutschen g e t r a g e n wurde; am 8. Mai von einer „Befreiung“ zu sprechen, ist zumindest auf die meisten Deutschen bezogen eine ziemlich zynische Lüge – ja eine eigentlich Schaudern machende Verhöhnung der Opfer)… also deshalb die Anstrengungen Adornos um eine Kunst, die nicht mehr verführbar sei und sich auch nicht wieder verführen l a s s e .

      Das hat mich überaus geprägt. Weshalb ich meine literarische Arbeit bis heute
      nahezu täglich dieser Fragestellung aussetze. Allerdings weiß ich unterdessen, daß Reduktion, wie sie Adorno in der Webern-Nachfolge vorschwebte, n i c h t der Weg ist. Zu verstummen bedeutet ja schlicht, nicht mehr zu leben, bzw. nicht mehr leben zu wollen. Einen solchen Sieg mag dem österreichischen Flachpinsel-Attilla (wie der alte D’Annunzio Hitler nannte) nun wirklich niemand gönnen.

    15. Pop up the Pop. Ich stimme quirinus da zu.
      Wenn ich den Begriff „Pop“ ferner dreist ethymologisch betrachte, so leitet er sich von „populär“ ab – und in diesem Sinne war (und ist) Mozart Pop ebenso wie Beethoven und Haydn, Rachmaninov und Tschaikowky zu ihrer Zeit „pop“ waren.
      Es gibt da auch immer wieder die Kritik an den „durchgehenden Beats“ in der sog. „Popmusik“ – man sollte aber nicht vergessen, dass die Wurzeln dieser konstanten Rhytmik auf dem „schwarzen Kontinent“ zu suchen sind. Vor allem dann nicht vergessen, wenn es um kulturelle Vielfalt geht.

      Gegen einen Rap ist auch nichts einzuwenden – und kürzlich waren die Beatboxing-Meisterschaften… dagegen ist McFerrin schon fast zungenlahm.
      Damit bin ich zwar noch nicht bei den Unterschieden von Neo-Realismus zu Neo-Mystizismus angelangt, aber was nicht ist kann ja noch werden ;-).

    16. Zu Mozarts teils unerträglichem Pop. Ist hierüber bereits von mir Stellung bezogen worden. Bei Beethoven (das bezeichnenderweise kammermusikalische Spätwerk ausgenommen) addiert sich noch ein heute kaum mehr tragbarer musikalischer Militarismus dazu. Aber in diesen Fällen schaut man historisch; der insbesondere industriell verfertigte Pop schließt a b s i c h t l i c h die Augen.

      Die Herkünfte und Absichten der „ursprünglichen“ Musiken stehen selbstverständlich auf einem anderen Blatt und haben ja auch, etwa im hard rock und free jazz, bzw. in ihren Mischformen (zum Beispiel Jack Bruce zusammen mit Michael Mantler) großartige Kunst hervorgebracht. Das ist aber nichts mehr, das sich unter „Pop“ fassen ließe, sondern in ein Segment der Neuen Musik gehört. Der „Beat“ ist da ganz marginal.

    17. Mozarts „unerträglicher“ Pop – darüber ließe sich streiten.
      Lieber hätte ich den Link dazu, da ich das noch nicht gelesen habe.
      „Musikalischer Militarismus“ – wie bitte ist das k o n k re t gemeint?

      Post Scriptum: Mir fällt noch etwas ein, das mir ein Mensch aus der Popindustrie mal erzählte – es betrifft sicherlich eine andere Definition von „Kunst“; er meinte, es sei unglaublich schwer, einen sogenannten „Ohrwurm“ zu schreiben. Was tatsächlich so ist, sonst würde ja jeder Song ein „Evergreen“. Verblüffend an den Ohrwürmern ist grade das Einfache und Rhytmische – es spricht eine Dimension an, die nicht mit rationaler Wahrnehmung korrespondiert.

    18. Denn ischa man gut, wenn Sie unter „Pop“ nur das verstehen, was offensichtlich akustische Umweltverschmutzung ist. Ich spreche dennoch weiterhin von Pop, weil dieser Begriff sich seit 1965/66 in Deutschland durchzusetzen begann und damals noch positiv konnotiert war: weil er für alles stand, was nicht Klassik; Jazz, Schlager o.dgl. war und auch nicht nur der klasische Rock’n’Roll oder Beat. Pop war so allumfassend, daß selbst einige der besten (weil kenntnisreichsten und zugleich kritischsten und deshalb einigen Herren mißliebigen) deutschen Musikmoderatoren, nämlich Kuhnke Miller Rottenberger Schulze von Radio Bremen, es bis in die 70er Jahre hinein vorzogen, von Pop statt von Rock zu sprechen: bis die deutsche Industrie den Begriff für aufgepeppte Schlagermusik vereinnahmt hatte. Da es ihr auch mit dem Begriff „Rock“ – womit hierzulande seit 1968 vor allem Hardrock gemeint war – längst gelungen ist (Kuschelrock), spreche ich stur weiterhin von Pop, wenn ich zusammenfassend von RnR, R&B, Soul (den echten alten …), Folk, Hardrock, Metal, Punk etc.pp. rede. Die akustische Umweltverschmutzung könnte man ja Poll Pop nennen.

    19. nachdem ich mich ja … … hier eindeutig auf fremdem terrain befinde, nur die anmerkung, dass ich das nicht so gern auf die geschmacksfrage reduzieren würde, mit der salomonischen ZEIT-leser lösung, dass es natürlich auch gute u-musik gibt und dass mozart ja eigentlich auch schon pop war. mir geht es jetzt hier tatsächlich um das konzept „pop“, das es chronisch schwer definierbar (l i n k) und v.a. autorlos eben doch gibt, und das ich insgesamt schon als ununmgänglich für zeitgenössische selbst- und welt-erkenntnis begreife. man muss es nicht mögen, aber da muss man durch.

    20. Der Ohrwurm ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den die Massenrezeption gebracht werden soll. Deshalb möchte man ihn auch so gerne herstellen. Er ist aber einfallsabhängig. Für sich genommen ist er (mir) dennoch, gerade auch physiologisch, unerträglich. Er entspricht im Roman einer Handlungs-Idee, die für sich genommen g a r nichts ist – außer daß sie sehr vorübergehend ein Verlangen stillstellt; vergleichbar mit der Symptombehandlung in einer ärztlichen Praxis. Nach weniger Zeit ist jeder Sensible seiner über und verlangt nach dem Neuen. Genau das will der Markt: product placing. Etwaig Bleibendes stört, weil es den Umsatz drückt. Das ist dieser Musik so furchtbar anzuhören. Was hingegen einen Ohrwurm oder – um es freundlicherund auch sympathisierend zu sagen – die Melodie zur Kunst werden läßt, ist ihre Verarbeitung: sei es in der Herleitung, sei es in Durchführung und Variation oder in ihrer Wandlung in eine wiederneue Meloie. Hier erst bekommt sie ihre Aura und Größe. Ich besitze – wie ich an anderer Stelle schon schrieb – einen Mitschnitt des Solokonzertes von Keith Jarrett aus Neapel von 1996, wo er fast eine halbe Stunde lang immer um einen Grunton herumspielt – deutlich suchend, immer wieder an harmonische Fügungen mit diesem Grundton lauschend… bis sie sich endlich ergibt und momenthaft ausgspielt wird. Wahrheit, schrieb Benjamin, leuchte auf und sei schon fort. Das ist das Gegenteil dessen, was der Pop tut, der seine paar Einfälle durch rücksichtslose Wiederholung in Grund und Boden feiert. Feine Gemüter bekommen davon Sodbrennen. Die andere Weise, mit einer an sich schlichten Melodie umzugehen, deren implizität für sich genommen geradezu beleidigend wäre, führt zum Beispiel Bach in den Goldberg-Variationen vor.
      Dazwischen, also zwischen dem improvisierenden und auskomponierenden Ansatz, sind unendlich viele andere Möglichkeiten vorhanden, die das Ohr weiten und nicht das Herz, mit dem einer eben auch denkt, beleidigen, nur weil der melodische Einfall – wie etwa bei den Unerträglichkeiten der Beatles – schon a l l e s sein soll. Ginge es nämlich nach Einfällen, hätte ich längst ein Werk von Bibliotheksumfang zusammengeschrieben. Das wäre dann leicht. Und erniedrigte mich, t ä t e ich’s weiter, entsetzlich. Weil ich die anderen erniedrigte, denen ich das zumuten würde.

    21. Musikalischer Militarismus. Tschaikowski in der Solonelle-Ouvertüre aber auch Beethoven in Wellingtons Sieg haben ihn vorgeführt und Coppola hat ihn in Apokalypse Now in einen Film eingefangen.

      Er läßt sich übrigens messen. Seinetwegen, im weitren übrigens, wurden Märsche ja auch geschrieben: Er war ihre Funktion.

    22. Der Pop & die Staatsmacht. – Das Artifizielle. (3). Im Feudalismus (einer Elitekultur) war Popularismus möglicherweise widerständig besetzt, hingegen ist er in der kapitalistischen Demokratie in jedem Falle staatskonform. Er schmiert die Herrschaftsverhältnisse.

      (CCCV).

  2. Pop & Poetik. Normative Thesen. 1
    Jeder nach dem Ersten Weltkrieg geschriebene Marsch ist ein Kulturverbrechen, insofern der Erste Weltkrieg der erste Krieg war, der – nämlich beim U-Boot-Kampf – ganz bewußt den Mord an Zivilisten ins strategische Konzept einband. Seither gehört der Zivilistenmord planhaft zu jedem Krieg hinzu, wird also ebenso angeordnet, wie der Marsch den Gleichschritt bestimmt..

    2
    Jede auf Zusammenschweißen von Gruppen hinkomponierte, das heißt gruppendynamisch wirkende Musik ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kulturverbrechen. Im Zweiten Weltkrieg bekam das Kollektiv seinen planhaft massenmörderischen Rang. Seither muß drum vereinzeln, was Kunst sein will. Kollektive sind für alle Zeit desavouiert, wenn man es mit der Auschwitz-Aufarbeitung ernst nehmen will.

    3
    Aus dem Westen herausgedachten Erkenntnisse sind mit denen anderer Kulturen zu vergleichen und gegenseitig mit ihnen abzustimmen. Wobei Quintenzirkel-Tonalität ohnedies ein westliches Spezifikum ist, das in die fremden “Tonalitäten” auf eine Weise eingegriffen hat, die kaum anders als kulturimperialistisch bezeichnet werden kann.

    4
    Tonalität (“harmonisches Komponieren”) fällt allerdings dort nicht unters Verdikt, wo sie auf Seiten der Komplexität steht, das heißt dem Vielen weiteres hinzufügt, also nicht ausschließend, sondern anreichernd – komplizierend – wirkt.

    5
    >>>> C o n c l u s i o

    1. Ach, ANH: Muß denn alles ein Muß sein? Ich finde das Gedudel im Radio scheußlich; doch ebenso scheußlich fände ich es, müßte ein Künstler, um noch als solcher zu gelten, sich nach Maßstäben richten, für die theoretisch zwar eine ganze Menge spricht, nicht jedoch psychologisch. Denn die Kunst ist nicht aus dem Bedürfnis nach Vereinzelung entstanden, sondern aus dem Bedürfnis nach ‚Veredlung‘ des einzelnen und der Gemeinschaft (andere sagen: aus dem Bedürfnis, Gott nahe zu sein). Je barbarischer aber diese Gesellschaft wird, desto einsamer fühlt sich der Künstler. De facto aber ist er es nicht. Und das weiß er insgeheim ganz genau. Also arbeitet er auch nicht, um zu vereinzeln. Er arbeitet für seine Gemeinde, die Gemeinde der hl. Vereinzelten, verbindet also Menschen über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg.

      Und noch etwas. Das Unerträgliche an dem, was Sie unter Pop verstehen, sind (abgesehen von allem anderen Unerträglichen) gar nicht die Wiederholungen als solche. Es ist die Wiederholung gräßlich seichter Melodien. Wirklich gute (die meist sehr alte oder diesen ähnlich sind) nämlich lassen sich recht lange hören, ohne Überdruß zu erzeugen oder das Gefühl, es handele sich nicht um Kunst. Je öfter man sie singt, desto deutlicher spürt man ihre Tiefe, wenn man denn ein Gespür für Kunst besitzt: so wie ein Ungeschulter erst begreift, wie genial Wandrers Nachtlied (Ein Gleiches) ist, wenn er das Gedicht immer wieder rezitiert und die Sprachmusik auf sich wirken läßt, bis er gaaanz vielleicht ihrem Geheimnis auf die Spur kommt.

      Was ich damit sagen will? Daß uns kein Verdikt vor der Seichtigkeit bewahrt. Die nämlich hat weniger mit dem technischen Können als mit der Person des Künstlers zu tun. Ist sie emotional flach, so ist es auch sein Werk, wie er sich auch darum müht, große & tiefe Kunst zu schaffen: so wie all die vielen „E“-Komponisten und bildenden Künstler unserer Zeit. Das Faszinierende an dem Pop, den ich meine, ist nicht zuletzt, daß 1 Dreiminutensong von Phil Spector oder Brian Wilson eine ganze Welt, ja sogar das All ausloten & umfassen kann, während 1 Stunde Oper von Hans-Joachim Hespos mitsamt dem schaafsmäßig dreinblickenden Publikum bestenfalls Realsatire ist.

    2. Ästhetiken formulieren regulative Prinzipien. Selbstverständlich gebären sie im selben Moment, da sie normativ werden, den Widerspruch. Genau das hält aber die Denkbewegung in Gang. Es wird die Frage gestellt, was unter diesen und jenen Umständen Kunst sein könne oder sein müsse, und die Antworten darauf führen ihrerseits zu Positionen, an denen sich der gesellschaftliche Zustand gut ablesen läßt. Ästhetik ist immer auch Erkenntnistheorie, und mit Beginn der Moderne ist sie Bestandteil der Künste selbst geworden – ungefähr seit bei Mahler der Kompositionsvorgang in die Komposition einging und nicht länger, wie etwa in der Klassik, zugunsten einer harmonischen Fassade verborgen wurde. Was Kunst s e i, wurde in dem Moment brennend wichtig, als sie in den Konzentrationslagern dem Durchhalten diente oder überhaupt in gesellschaftliches Zweckinteresse gestellt wurde. Vor der Moderne betraf das die Architektur und vor allem, nämlich seitens der Religionen, die Musik. Aber das werden Sie alles wissen.
      Mich interessiert, nachdem die großen Norm-Linien zusammengebrochen sind, was das für eine postmoderne, bzw. nach-postmoderne Kunst bedeutet, vor allem, welche Rolle die Kunst in einer sich zunehmend verkünstlichenden Welt spielt. Mich interessiert, daran b e w u ß t mitzutun; selbstverständlich bin ich mir klar darüber, daß es Künstler gibt, die das n i c h t interessiert, und daß diese Künstler dennoch gute Kunst schaffen können. Aber ich möchte immer wissen, warum. Ich bin sozusagen vom Sündenfall getrieben. Es ist halt so – das hat mir noch nie genügt.
      Zu Phil Spector und Brian Wilson kann ich nichts sagen, da ich beide nicht kenne. Aber ich werde mir nun Musiken besorgen und hineinhören. Meine Skepsis ist allerdings groß. Von wem immer ich bislang Pop-Größenn genannt bekam und wann immer ich bislang hineinhörte, war es immer wieder eine Enttäuschung, die mit einem harmoniesüchtigen Kitsch zusammenhing, den ich rein phyiologisch nicht ertrage. Es ist stets, als zwänge man mir Buttercreme auf. Aber egal, ich versuche es ja immer wieder.
      Wegen Hespos wäre mein Urteil nicht ganz so hart, wenngleich ich andere Komponisten deutlich favorisiere. Meinerseits ertrage ich Phil Glass und Steve Reich nicht; statt dessen liebe ich nach wie vor Nono. Und schätze Stockhausen, so sehr mir dessen Heiligkeit auch auf die Nerven geht.

    3. Zwingen Sie sich bloß nicht zum Kauf oder zum Hören irgendwelcher Pop-Klassiker. Ich jedenfalls empfehle Ihnen ausdrucklich nichts. Täte ich es, dann nur situationsbedingt. Vielleicht lernen Sie ja mal jemanden kennen, der Ihnen in einem magic moment (etwa morgens um 1/2 5; eine gute Zeit für musikalische Grenzüberschreitungen) genau die richtige Scheibe vorspielt, welche auch immer das sei.

      Und welche Rolle die Kunst in einer sich zunehmend verkünstlichenden Welt spielt? Für den bereits verkünstlichten Menschen ist sie ein Event, eine Leibesübung, ein Sammlerobjekt, ein Einrichtungsgegenstand oder ein Bestandteil der Musikalischen Hausapotheke; kurz: ein Dr. Feelgood.

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