8.28 Uhr
[George Benjamin, Palimpsests.]
Zur Zeit komm ich morgens einfach nicht früh hoch. Sollte das ein Ergebnis der Psychoaanalyse sein, wie ich schon seit dreivier Wochen wähne (und das mit dem Analytiker auch diskutiere), dann bleibt nicht nur die ökonomische Grundsituation bedrohlich, sondern auch die ErkenntnisTherapie wird es dann, da ich kaum noch zu disziplinierter, konsequenter Arbeit komme. Und das alles “nur”, weil ich den Erinnerungsblock endlich sprengen, zumindest eine Tür hineinfinden will, der alles, was vor meinem fünften/sechsten Lebensjahr geschehen ist, in ein komplettes Dunkel hüllt. Nur ein überdies flaches Erinnerungsmoment schimmert heraus: Einmal sitze ich auf einer leicht abschüssigen Alm, völlig allein, ich bin vielleicht zwei Jahre alt und rupfe Gras aus der Wiese; die Alm ist von Bäumen – einem Wald wohl – umstanden, deren tiefschwarze Silhouetten mit ihren Wipfeln Wesen formen: mir von dort zuwinkende, mich lockende Kobolde und Gnome. Es ist eine nur leise, aber verführerische Bedrohung, was davon ausgeht. Ich schaue aber kaum auf, sondern rupfe immer weiter Grasbüschel aus. Die nächste Erinnerung, die ich habe, spielt bereits in meinem fünften Lebensjahr. In dem Block aber, den ich sehr wohl wie einen festen, quadratischen Metallblock von der halben Höhe eines Wohnhauses empfinde, versteckt sich etwas, ist etwas eingegossen worden sozusagen, damit keiner daran rührt. Er ist dinggewordenes Tabu, und ich bin seinerzeit angetreten, dieses Tabu endlich zu brechen. (Sind Tabus d e s h a l b für mich zeitlebens ein solches Thema gewesen? Sie und das Aufbegehren gegen sie?)
Tagesplanung
8.50 Uhr
Newsletter hinausschicken. (ERLEDIGT).
DIE DSCHUNGEL.
9.10 Uhr:
En-Suite-Programm entwerfen (geplant für den Winter 2006 im Literaturhaus Köln).
10.15 Uhr
ARGO.(Wieder hineinkommen).
12 Uhr:
Mittagsschlaf.
13 Uhr:
Beitrag für das Ensemble Modern skizzieren.
14 Uhr:
Analyse.
14.30 Uhr:
Ensemble Modern ff.
DIE DSCHUNGEL.
Abends:
Freihalten für den Freund. Wenn er sich nicht meldet, auf Abruf vor mich hinarbeiten. Vielleicht auch Oliver Stones “Alexander” ansehen, schon wegen der Jolie.
12.10 Uhr:
Ich brauche einen B e g r i f f für die Poetologie. „Phantastischer Realismus“, was mir als Pendant zu Südamerikas „Magischem Realismus“ eigentlich überaus zu passen scheint (die Parallelen sind nicht nur mythischer, sondern vor allem synkretistischer ‚Natur‘), ist leider über die Wiener Künstlergruppe belegt. Ich brauche etwas, das den Akzent auf die Technischen Welten legt, die sich mythisieren. (Nur eben als Gedanke notiert, während ich weitergrüble.)
Heiner Goebbels‘ Eislermaterial gehört. Diese Ästhetik ist mir trotz ihres Synkretismus sehr fremd; ich finde in das Travestische, etwas Circensische nicht hinein, auch nicht ins Bänkelliedhafte. Nur der Jazz geht ganz an mich heran. Die O-Toncollagen haben darüber hinaus etwas Rührendes, Anrührendes, was ich sofort als von meinem Hör-Organismus arrogant empfinde, aber nicht abstellen kann.
15.47 Uhr:
Die Analyse wird schwierig. “Ich fürchte, Sie werden akzeptieren müssen, daß es auch für Sie Situationen der Hilflosigkeit gibt.” – So unangenehm das tatsächlich ist, so schwer mir die Arbeit dadurch wird, denke ich doch unablässig darüber nach und finde, kaum komme ich Zuhause wieder an, den erstaunlichen Satz: “Ich habe, seit ich erwachsen bin, psychoanalytisch gedacht, mich selbst aber verhaltenstherapeutisch organisiert. Das bricht nun zusammen.” Der Satz ist, scheint mir, wahr. Nun muß ich irgendwie was draus machen. “Das Unvereinbare vereinbaren wollen.” Auch das ist immer wieder Thema in der Analyse geworden und zusammengedacht mit meiner (so theoretischen wie emotional heftigen) Attacke auf den Satz vom Ausgeschlossenen Dritten immerhin eine Grundlage meiner Poetik.
(Eigentlich gehört dies hier ins Arbeitsjournal. Doch Leben (Privates!) und Werk sind derart ineinander verzahnt, daß sich nichts wirklich eineindeutig zuordnen läßt.)
NACHTRAG
Gutes, fast tiefes, zugleich sehr gelöstes Telefonat mit L., der Domina vom 7. Mai (“Die Nacht”), danach wunderschöne Fernumarmung von Annika, bevor ich mich aufs Rad schwinge, um dem Freund beizustehen, so gut es geht: nur dasein, das wird genügen. Vorausschauend die Zahnbürste in die Brillentasche des Jacketts gesteckt und ab.
Arbeitsfortschritt:
En-Suite-Projekt für das Literaturhaus Köln; erste Ideen skizziert. Als Arbeitstitel erst einmal: Prometheus Cyborg. Visionärer Realismus in der Gegenwarts-Literatur.
Visionärer Realismus
Das ist an sich eine gute Idee. Aber die Begriffsbildung verschiebt den Realismus nun ein wenig z u sehr aufs Imaginäre. Es geht mir sc h o n darum, die (materiellen) Dinge und Zusammenhänge empirisch zu erfassen, dennoch soll das Darüberhinaus als Wirkfaktor mit einbezogen sein, also alles medial Konstruierte, dem möglicherweise nichts Dingliches mehr entspricht, das aber das Dingliche und neues Dingliches formt, wenn nicht sogar schafft. Der Akzent muß dabei unbedingt auf dem Realismus liegen. Wie ich bereits mehrere Male hergeleitet habe (siehe „Essays“ bei >>>> herbst & deters fiktionäre), hat eben das Phantastische nicht etwas Beliebiges, das aus dem Märchenhunger kommt, also eskapistisch ist, sondern gräbt nach verdrängten Sachverhalten, die Welt konstituieren, ohne daß wir das bemerken, bzw. wahrhaben wollen. Im Gegensatz zur Vision ist das Phantastische auf die Gegenwart ausgerichtet, wobei es zugleich nach unten (historisch: nach hinten) schaut, um Motive zu erkennen. Das Visionäre ist insoweit weniger tauglich, als von einer Wechselwirkung zwischen Zukunft und Vergangenheit kaum gesprochen werden kann, weil, jedenfalls bislang, Zeit irreversibel ist.
Hm, so gesehen… Ich bin zwar der Ansicht, dass das Visionäre unbedingt der Vergangenheit bedarf, um in die Zukunft weisen zu können (denn woraus speisten sich denn sonst Visionen?), kann aber Ihre Vorbehalte gut nachvollziehen. Begriffsbestimmungswehen… (jedenfalls kam mir der „Visionäre Realismus“ mit dem Hintergrund der Niedertracht der Musik sofort in den Kopf).
Ich hab nach einiger Hin- und HerÜberlegerei. Mit dem Begriff jetzt auch zu arbeiten begonnen:
Prometheus Cyborg. Visionärer Realismus in der Gegenwarts-Literatur.
Konzept-Theorie:
Für einen visionären Realismus
Der Phantastischer Realismus.
Die Europäische Form dessen, was in Südamerika Magischer Realismus heißt.
Beide eint der Sykretismus.
Synkretistische Phantastik ist der Versuch, einen neuen, der medial veränderten Wirklichkeit angemessenen Realismus zu begründen.
(Daten eines Konzepts für eine geplante Veranstaltungsreihe.]