9.29 Uhr:
Milder, nur noch leise traurig. Meinem Jungen, der freudevoll sagte: “Heute ist der Tag, an dem Mama abends zum Essen kommt!”, vorsichtig angekündigt, daß die Mama eventuell arbeiten müsse und dann n i c h t kommen könne. “Trefft ihr euch dann übermorgen?” “Wahrscheinlich nicht, Adian; es ist ja auch nicht so wichtig. Es gibt ja nichts zu besprechen.” “Schade.” “Ich bin a u c h ein bißchen traurig gewesen, als die SMS kam.” “Ich bin j e t z t noch traurig.” – Aber er nimmt es letztlich gut auf.
EvL geht einen großen Schritt zurück, setzt die Maske eines brasilianischen Vogels auf, die aber ihre schönen Zähne noch sehen läßt, und tritt einen ganz großen Schritt wieder vor, wobei sie zugleich m e i n e Identität verändert: zurückverändert.
12.29 Uhr:
Im gestrigen Tagebuch entwickelt sich eine Erziehungs-Diskussion, die eigentlich in eine gesonderte Rubrik gehörte. Und eigentlich doch wieder n i c h t. Alles verschränkt sich, wächst ineinander. So, wie das einmal beabsichtigt war. Nun aber vollzieht es sich selbstätig – eigenorganisiert, würden Kramer und Caempfer das nennen.
Nachtrag:
Es wurde, insgesamt, den Tag über ruhiger um die EvL-Wallung, meine und ihre; ohne inniger zu werden, aber, irgendwie, Maß nehmend, so, wie einer, als zielte er, durch den Sucher schaut. Und ich konnte ihr den Wunsch erfüllen, ihr Musik zu schicken: in Häppchen fraktioniert, so daß das Mail-Programm es auch tut. Der mp3-player setzt es in B. A. dann wieder zusammen. Die Zeitverschiebung macht sich bemerkbar: Es ist jetzt nachts 3.02 Uhr (und hier 8.02 am nächsten Morgen); vor diesem hiesigen Mittag wird EvL kaum aufstehen. Um diese Zeit war sie sonst immer noch wach,doch muß sie, wie ich, arbeiten.
Freund O. kam vorbei, abends, auf einen Wein, dem sich für jeden noch zwei Bier addierten. Er hörte zu, wie ich – es war Zubettgeh-Zeit – meinem Jungen italienisch Pinocchio vorlas und immer ad hoc übersetzte. Er wurde sehr melancholisch davon und formulierte das auch. Lange mit ihm gesprochen. “Wo bist d u eigentlich?” fragte er und: “W e r bist du?” Mein Versuch, ihm die Schwieirgkeiten zu erklären, die ich mit meinen verschiedenen Ichs habe. Mir wurde klar, daß ich mich nur in einer einzigen Rolle fest definiert fühle: in der als Vater für meinen Sohn. Und gegenüber meiner Literatur. Aber da habe ich oft Zweifel (was mich dann z w i n g t, produktiv zu sein); im Verhältnis zu dem Kind gibt es den Zweifel nicht. Wenn auch, gewiß, bisweilen darüber, was für ihn, mich, seine Mama das Richtige sei. O. wurde immer leiser, ich auch. Ich habe ihn nie vorher weinen gesehen. Er ist ein harter, gewandter, bisweilen zynisch wirkender Mann. Da ging er. Ich war leise betroffen, sandte ihm noch eine SMS hinterher. “Worum ich dich wirklich beneide”, hatte er gesagt, “ist deine Fähigkeit, Musik zu hören.” Und wegen EvL: “Wieso kannst du so brennen?” Mir ging nachts noch auf – ich schrieb kurz mit EvL darüber -, daß ich niemals jemanden um etwas beneidet habe. Nicht einmal Musiker, wenngleich ich doch nichts in der Welt derart gerne geworden wäre. Aber ich neide nicht, sondern setz mich dann hin, höre zu und bin glücklich und erregt, wenn die Musik schön wird. Ich bewundere dann. So etwas wie Neid oder Traurigkeit spielt dann gar keine Rolle. Es ist vielmehr so, als spielte i c h dann diese Musik. Und weiß zugleich: Es ist jemand andres. Vielleicht sogar: etwas anderes.