Freitag, der 9. September 2005.

5.13 Uhr:
[Dallapicolla, Frammenti sinfonici.]

An sich bin ich noch betrunken, so viel Wein schüttete ich gestern nacht in mich rein. Völlig unklare Augen, der Schädel tut so, als brummte er, und jede Handbewegung ist ungenau. Das wird allmählich gefährlich. Keine Ahnung, weshalb ich plötzlich so sozusagen zweifach trinke. Wird Zeit, daß das aufhört. Aber erstmal die Raucherei: noch sechs Tage nach Plan, dann stelle ich erst einmal d a s ein. Die Arbeitsstruktur scheint nämlich wirklich zu stehen. Also mit dem 15. September: aufhören zu rauchen und wieder mit dem Sport beginnen. Einen Monat lang d a s. Dann, am 15. Oktober, aufhören zu trinken; zwei Monate lang keinen Alkohol, auch keinen versteckten im Essen oder in Süßigkeiten. Am 15. Dezember werd ich den Körper entgiftet haben und wieder hochtourig drehen können. Die Arbeitsstruktur wirkt schon jetzt wieder stark in mir: Trotz meines objektiv schlechten Zustands bin ich pünktlich zehn vor fünf hoch und gleich, nach dem Kaffeebereiten, an Küchentisch & Laptop. Und das trotz der diesen Monat wieder heftigen Finanzmisere und keiner Aussicht auf Besserung.

Es wurde sehr spät gestern nacht.
1) Ich sandte eine SMS an die Mama des Kleinen. Es ist nun das sechste (!!!) Kind aus Adrians Klasse wegen dieser Klassenlehrerin von der Schule genommen und in eine andere gegeben worden; jetzt ist die Klasse gerade noch 19 Kinder stark. Eine Umversetzung in eine Parallelklasse, hieß es gegenüber einem Elternteil, sei nicht möglich. Diejenigen Eltern, die achtsam sind, wollen ihre Kinder nicht weiterhin diesem DDR-Drill ausgesetzt wissen; einige Kinder weinten (!) bereits nach drei Tagen, wenn sie morgens in die Schule sollten. Auch m e i n Kleiner hat die Lust verloren, nach knappen zwei Wochen. Dabei war er so voller Glück, daß er endlich hatte hingehen dürfen. Er hat derart viel mitbekommen von beiden Eltern, daß nicht einzusehen ist, wenn eine Lehrerin ihm die Freude am Wissen und Lernen und dann an der Schule insgesamt verdirbt. Also schickte ich eine Dringlichkeits-SMS an seine Mama. Daraufhin: „Komme morgen um acht zu Euch rüber.“ Nun stellt sich die Frage, welche andere Schule möglich, vor allem auch finanzierbar sei, die Adrians mitgebrachtes Wissen und seine sehr aktive Intelligenz f ö r d e r t und nicht wie den vorstehenden Nagel einschlägt und wegdrillen will.
2) Welch ein schlechter Arbeitstag! dachte ich gestern mittag noch. Die zu seinem Beginn frühmorgens geschriebene Opernkritik brachte mich ganz aus dem Erzählfluß. Aber dann, als ich spätnachmittags die Ergebnisse ansah, war es wieder so viel Text geworden wie an dem sehr guten Tag zuvor. Allerdings ging es um eine Passage, bei deren Gestaltung ich mich durchringen mußte: ein unerwartetetes Modulationskapitel. Da häng ich jetzt immer noch drin, denn unvermittelt gab es eine scharfe Kehre der gesamten Entwicklung, ich muß hier sehr die Konstruktions-Balance halten. Und stehe mit einem Mal mitten in einer Zentralszene, die an sich völlig logisch ist, aber eben unerwartet vorschoß. Damit muß ich nun (seelisch) erst einmal fertigwerden.
3) Nachts langes Gespräch imYahoo-Messenger mit einer Freundin, der ich vor ein paar Wochen beschied: Kein Kontakt zwischen Mann und Frau ohne Eros. Woraufhin wir uns verkrachten. Jetzt aber kommt sie mit einem s e h r großen literarischen Stoff. Erzählt mir davon. Ich bin so angefaßt davon, daß ich anfange, die ersten Zeilen zu skizzieren. Sie: „Halt! Nicht D u sollst die Erzählung schreiben!“ Ich fange an zu lachen. Dann biete ich meine Hilfe an. Sie: „Wieso auf einmal? Wieso jetzt d o c h ein Kontakt ohne Eros?“ Ich: „Weil Du einen S t o f f hast. Weil so etwas absolut vorrangig vor jedem menschlichen Konflikt ist.“ Und ich erkläre ihr, es sei ähnlich wie meine neue Haltung gegenüber ***: Seit es objektiv um Probleme meines Jungen gehe, also wegen der Schule, sei es für mich restlos logisch, daß ich aufhören muß und dann auch aufhöre, Kontakte zu seiner Mama abzuwehren. Hier gehe es nicht mehr um subjektive Befindlichkeiten, die seien jetzt völlig egal. Hier gehe es um das schulische Wohl, also die Zukunft meines Sohnes. Da hätten die Nöte, Schmerzen und Leiden der Eltern nichts mehr zu suchen. Ganz genauso sei es, wenn man an einen erzählerischen S t o f f rühre, wenn es d e n zu gestalten gelte. Das sei ganz vergleichbar mit einem Kind: Was man an persönlichen Problemen hat, ist gegenüber der Kunst eine ebensolche Makulatur. Persönliche Probleme haben auch da nichts zu suchen, die macht man dann mit sich selbst aus. Nicht vorher, nein, aber dann. Es ist eine reine Frage der Verhältnismäßigkeiten. Die eigene Person ist einfach uninteressant und nachrangig gegenüber der Kunst.

So wurde es nach eins, fast halb zwei. Dreieinhalb Stunden Schlaf also etwa. – Ich sehe gerade, mein mail washer blinkt. Aber ich lese die Post noch nicht, auch wenn ich grad sah, von wem sie stammt. ARGO geht vor.

8.13 Uhr, Arbeitswohnung:
[Sibelius, Fünfte Sinfonie. Berglund.]
Bei der ganzen Husterei hab ich mir eben vorgenommen: wenn diese eine Stange vietnamesisch/russischer Schmugglerzigaretten aufgeraucht ist, kauf ich keine neuen mehr, sondern hör dann halt g l e i c h auf, sozusagen den Plan vorziehend und indem ich darauf vertraue, daß meine Arbeitsstruktur wirklich schon jetzt wieder steht und nicht erst in sechs Tagen. Es scheint ja so zu sein. Aber, wissen Sie, nachdem ich gestern Pfefferminztee gekauft habe und eben das Wasser im Kessel bollert (was ich wegen der Kopfhörer eigentlich nicht hören kann; trotzdem nehme ich’s wahr), kann ich wirklich auch insgesamt konsequent sein: Pfefferminztee war mein Hauptgetränk in den langen Arbeitszeiten an WOLPERTINGER, THETIS und auch noch BUENOS AIRES. À propos: Ich mach mir s c h o n Sorgen um EvL da zwischen Seuchengefahr, permanent nassen Füßen, Katrinastaub und bewaffneten Banden. Jeden Morgen lese ich über die neuesten Entwicklungen dort nach, was ich sonst nur tu, wenn es mir um Material für die Romane geht; der asiatische Zumani etwa ist ja bereits in ARGO fast ebenso schwermotivisch eingegangen wie die jugoslawische Völkermetzelei in THETIS. Nun aber mag ich nicht daran rühren, denn eine Freundin ist, fühle ich, konkret in Gefahr. Die letzten beiden Mails, in denen ich ihr Musiken schickte, damit sie weiß: es gibt ein Fühlen außerhalb, sind unbeantwortet geblieben. Andererseits: Was gehen sie jetzt meine Sörgelchen an…

Tee aufbrühen. ARGO. Und dabei dem wunderschönen zweiten Satz dieser Sinfonie lauschen.

22.39 Uhr:
Guter, sehr guter Arbeitstag bis mittags. Dann allerlei erledigt, noch ein bißchen ARGO-Notizen bearbeitet. Und jetzt eben ist *** wieder gegangen; zum ersten Mal seit dreieinhalb Jahren lag der Kleine zwischen Mama und Papa im Bett und lauschte dabei der Mama beim Vorlesen.
Wir haben mögliche andere Schulen herausgesucht, im Netz die Selbstdarstellungen gelesen; am Montag früh schauen wir uns gemeinsam die Europaschule am Arkonaplatz an. Ich werde *** um kurz nach acht vorm Eingang der jetzigen Grundschule des Kleinen abholen, nachdem sie ihn dort hingebracht haben wird. Wir werden sehen.

Arbeiten mag ich jetzt nicht. Fühle den Blicken, der Stimme nach, sehe Schultern, Hals, Haar. Höre Jarrett. „Sie hat etwas sehr Heilsames, diese Musik“, sag ich zu Katanga, der mir am Küchentisch gegenübersitzt.

Deshalb jedenfalls bereits so früh im DTs den Arbeitsfortschritt notiert.

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