Sonntag, der 18. September 2005.

4.50 Uhr:
[Schreker, Flammen.]
Es wird jetzt morgens bereits kühl; auch gestern nachmittag schon, auf dem Spielplatz, fror mein Nacken, wenn ich mich in schattigen Bereichen aufhielt. Das war ein wirklich kurzer Sommer, man darf sich nun wieder auf sieben Monate der härteren Witterungsgangart einstellen.
Auf um pünktlich 4.30 Uhr. Kaffee gekocht, Zähne geputzt, DTs aufgestellt. Bis acht nun an den Roman gehen, während des Frühstücks >>>> eb ein bißchen Stockhausen rüberschicken, dann irgendwas mit dem Kleinen unternehmen. Er sollte außerdem noch etwas für die Schule, auch für die Musikschule tun, bevor ich ihn heute früher zur Mama bringe. Auch für mich selbst ist ein Pensum zu schaffen. (Das lenkt mich auch von Sorgen ab: Selten bangte ich so mit dem Verstreichen der Zeit, weil zum nächsten Monat wieder Beträge fällig sind, die schon in d i e s e m nicht bezahlt werden konnten.) Also los: Deters sieht Cordes, wenn er in den Spiegel schaut.

5.22 Uhr:
Ach ja, wählen muß ich ja a u c h noch. Nur: Was? Kein Intellektueller wählt ja wirklich noch nach seinen persönlichen Interessen; auch ich nicht. Als ‚elitärer’ Künstler müßte ich mein Kreuzchen eigentlich bei der CDU machen, weil dortseits auch eine Kunst gefördert wird, die gegen die kapitalistische Doktrin denkt und fühlt; Hauptsache: die Arbeit ist formal gut. So viel ideologische Kunst-Toleranz besitzen weder die Grünen noch gar die Sozialemokraten; bei denen ist Kunst immer mit einem gesellschaftspolitischen Auftrag verbunden und die Form imgrunde egal. Deshalb fördern SPD und Grüne ein solches ästhetisches Mittelmaß. Das ist ziemlich zum Schaudern. Zum Schaudern ist auch, wenn ich mir vorstelle, wie viele Aktionen ich schon mitgemacht habe, damit die „einfachen“ Arbeitnehmer eine 40-Stundenwoche und tarifliche Bezahlung bekommen, was für mich selbst völlig unmöglich und auch gar nicht praktikabel wäre – einmal davon abgesehen davon, daß kein Arbeitnehmer für so etwas je in den Streik treten würde, sagen wir also: um für Künstler einen Mindestlohn zu erstreiten – was diese, umgekehrt, aber sehr w o h l taten. Und dennoch: CDU k a n n ich nicht wählen, mein eigenes Interesse nun hin und her; ein solches Horrorkabinett ist vor allem weltpolitisch nicht tragbar, man stelle sich nur die Schleimspur vor, die im Falle eines konservativen Wahlerfolges von Berlin nach Washington führte: sogar auf dem Wasserspiegel des Atlantiks wär sie noch zu sehen. Dann besser d o c h die Schleimspur, die aus dem Kanzleramt in die Chefetagen von Daimler Chrysler, Deutscher Bank und, sagen wir, zu Otto Schily führt.

12.55 Uhr:
[Barock-Internet-Radio.]
Knapp drei Seiten ARGO. Dann mein Junge.
Gespielt, gelernt, geduscht.

16.06 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Sah sie, als ich den Jungen brachte. „Sei doch nicht immer so“, sagt sie. Ich schau sie mir lieber nicht genau an. Schau sie mir genau an, logisch. „Ich geh jetzt laufen“, sag ich. Der Junge: „Nein, bleib doch.“ Ich: „Aber du weißt doch, daß die Mama heute nachmittag gern was Schönes nur mit D i r unternehmen möchte.“ Kuß noch, mehrmals, der Junge spielt mit seinen und meinen Lippen, dann geh ich. Laufe. Wähle auf dem Weg in die Arbeitswohnung. G a n z ohne Grüne hab ich’s nun doch nicht geschafft, irgendwie glaub ich offenbar noch immer an die. Jedenfalls bekam ich’s nicht hin, mit b e i d e n Stimmen Die Linken zu wählen, also u.a. PDS. Künstlerisch bedeutete das für mich eh den Untergang. Aber SPD ist nicht besser, und Schröder zu wählen, war absolut ausgeschlossen. Merkel ging ebenso wenig, also was tun?
Jetzt bin ich so erschöpft, daß ich eine Stunde lang schlafen werde, bevor ich wieder an die Arbeit geh.

Der Junge bringt mir vorhin noch ein Bild als Geschenk. „Soll ich das aufhängen?“ frage ich. Er antwortet: „Ja.“ „In die Küche“, frage ich, „neben meinen Arbeitsplatz?“ „Nein“, sagt er: „in die Arbeitwohnung bitte.“ Und s o sieht es aus:

[Die spitzen Zähne spielen auf seinen geliebten Kleinen Vampir an.]

17.29 Uhr:
[Mozart, Sinfonie Nr. 40. CSO, Bruno Walter.]
Kaum liege ich… – ja schon, während ich mich entkleide, durchziehen mich Frostschauer; ich kann mich gar nicht ruhig ausgestreckt halten, zittere wie ein unrund laufender Motor, und mir ist kalt kalt kalt. Das ist aber nicht schlimm, sondern hat etwas ausgesprochen Komisches, auch wenn ich Krankheit gerade jetzt nicht sehr gebrauchen kann: Morgen muß ich zu einer Probe nach Hannover fahren, und hoffe, wegen des Ticketts, daß meine Visacard noch nicht gesperrt ist. Jedenfalls kann man nicht sagen, daß ich schliefe: dennoch, zitternd erhole ich mich. Dreh mich herum, sehe die drei kleinen Fotos meines Jungen an, die ich über der Couch an die Wand gepinnt habe – und muß plötzlich vor hellster Erkenntnis auflachen: Ich stelle nämlich offenbar nicht etwa deshalb Bilder von ihm und auch von mir in Die Dschungel ein und tapeziere damit die Arbeitswohnung (was symbolisch durchaus dasselbe ist), weil ich besonders eitel wäre (das nahm ich bislang nur immer so an), sondern weil das jenes Dritte, jenes Vermißte am Leben erhält, das, damit der Vorgang ein guter ist, hinzugedacht werden muß. Es ist dieselbe Dynamik, die meinen Jungen bewog, mir das Bild zu malen und es mich hier in der Arbeitswohnung aufhängen zu lassen, wo auch ganz gut o h n e Repräsentanz eines Gefüllten gelebt werden könnte.
Die Erkenntnis hat eine solche Evidenz, daß mir spontan nach Mozart wird und danach: aufzustehen, mich an den Schreibtisch zu setzen, einen Espresso zu trinken und mit der Welt versöhnt zu sein.

22.14 Uhr:
Vier Seiten ARGO roh-TS, das ist für einen Sonntag gut. Zumal die Grippe steigt, also eine Art noch leichtes Fieber. So hab ich mich dick eingepackt und guck DVDs. Eben „The Interpreter“ von Sidney Pollack mit Kidman und Penn. Schöner, politischer Thriller, der freilich die Rolle der USA bei afrikanischen Ethno-Säuberungen, also die dahinter wirkenden Interessen vorsichtig außen vor läßt.
Vielleicht guck ich noch was, vielleicht geh ich früh ins Bett: dick eingepackt, Socken an den Füßen – so, wie ich nur schlafen kann, wenn eine Krankheit niedergerungen werden muß.
Gute Nacht.

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