4.44 Uhr:
[Berg, Wozzek-Suite unter Carlos Kleiber.]
Gewissermaßen habe ich, so fiel es mir gestern datumspassend zu THETIS und den ANDERSWELT-Romanen ein, einen Halloween-Roman geschrieben; der bei mir schon deshalb ein Samhain-Roman ist, weil Halloween als Fest in meiner Kindheit und insgesamt in Europa eigentlich keine Rolle spielte; sondern das schwappte erst als neues Fest im Gefolge der US-Amerikanisierung mit herüber. Interessant dabei zu beobachten, wie Geschichte funktioniert, s e e l i s ch funktioniert: Für Katangas Zwölfjährigen wir meinen Fünfjährigen ist dieses (Volks-)Fest eine völlige Normalität und also so, als wäre es hierzulange seit jeher begangen worden. Sie spüren den Traditionsbruch nicht. Denn die h i e s i g e Tradition: das keltische Fest, das Halloween eigentlich ist (der Name bedeutet ‚Huldas Nacht’) – die war, wahrscheinlich mit der siegreichen Christianisierung, längst vergessen. In den USA lebte sie (über irische Einwanderer?) als säkularisierter – verdrängender – Spaß wieder auf.
Ich hab mich, wie Sie merken, emotional wieder gefaßt. Die kalte Dusche ist verwunden. Nun also weiter in den Kampf: Literaturkampf, Liebeskampf. Eine schöne Musik übrigens, die ich da gerade höre. Expressiv, d a. Wie immer, wenn Carlos Kleiber dirigierte. Leider kann ich nicht anders, als auch für diese Aufnahme auf Emule zu verweisen.
ARGO. ANDERSWELT.
P.S.: Fragte mich gestern Hediger: „Diese Vermischung von Realität und Fiktion. Halten Sie das auch in Ihrem Tagebuch so?“
auch wenn rund um uns die Welt zerbricht,
selbst wenn nicht mehr so viel für mich spricht.
Laß mich einfach nicht mehr los.
…
Mag sein, ich will schon wieder viel zu viel,
und du fragst zu recht, was dir noch bliebe,
nichts als diese unbedingte Liebe,
die vom Himmel auf uns beide fiel.
Und die Hoffnung, daß sich dann und wann dieser Zauber wiederfindet
Und aus unserm Leben nie verschwindet, was uns aneinander halten kann.
…
Bleib bei mir, auch wenn du nicht mehr willst,
wenn dir meine Unzulänglichkeiten
aus den liebevollen Händen gleiten,
Bleib bei mir, wenn du mich nicht mehr willst.
….
Laß uns einfach nicht mehr los,
Wenn die Zeiten uns auch auseinandertreiben,
und es schwerer wird, verständnisvoll zu bleiben,
Laß uns einfach nicht mehr los.“]<<<<
Oh, bin ich sentimental. Oder grausam und voller wütender Bilder. Beim Laufen vorhin. Fast erschreckend. Und dann wieder traurig. Und dann, eben, sentimental. Wie jetzt.
Beide G.’s haben für den Abend abgesagt. So werd ich mich an den Stuttgarter Vortrag setzen. Heiter übrigens, diese Parallelität: >>>> Stuttgart real und Stuttgart/Buenos Aires (ARGO).
14.47 Uhr:
[Schreker, Die Gezeichneten. Nagano.]
Tief geschlafen und kurz vor der ziugemessenen Stunde ohne Weckergiepen erwacht und aufgestanden. Den latte macchiato bereitet, für Musik gesorgt, zu litblogs.net gesurft. S c h o n ein eigenartiges Gefühl, >>>> Hedigers Kommentar zu unserem Treffen gestern zu lesen. Ich war einfach nur, wie immer, gegenwärtig, aber nicht einmal besonders präsent, fand ich. Schon, weil der Junge sehr viel Aufmerksamkeit einforderte und sie selbstverständlich bekam. „Haben Sie eigentlich keine Vorstellung, wie Sie wirken?“ hat mich der Analytiker einmal gefragt. Nein, das habe ich wohl nicht. Vielleicht auch deshalb die SelbstErfindungen: sich gestalten, um sich zu sehen. Und die Blicke in den Spiegel sind solche der Selbstvergewisserung, der Selbstsuche. Vielleicht also d o c h nicht eitel? Oder vielleicht nicht nur? (Und befinden sich diese beiden Fragen außerhalb des EitelkeitsHalos? Oder w e i s e n zumindest hinaus?)
Ich setze mich jetzt mal an den Entwurf des >>>> Vortrags für Stuttgart.
21.17 Uhr:
Heftige Magenattacke. Selbstbeherrschungsversuche: einfach aushalten… nix geht mehr, nur DVD gucken, immer wieder tief atmen, die Zähne zusammenbeißen und hoffen, daß eine schwere Müdigkeit kommt.
Magenmittel! Meister! Er wird uns doch nicht unter der tippenden Hand wegverrecken wollen! Hiergeblieben! Wenn Sie nicht dieses (eigentlich löbliche) strikte Alkoholverbot übers sich verhängt hätten, würde ich sagen: ausnahmsweise mal einen guten Schluck AVERNA oder FERNET. Hilft! Bleiben Sie gesund.
Keine Sorge. Ich verreck nicht daran, hab solche Anfälle, seit ich 13 oder 14 bin, immer mal wieder. Es ist schmerzhaft, das ist alles. (Alkohol hilft übrigens n i c h t, eher im Gegenteil, da er die Säureproduktion ankurbelt.)
Basen Dann eben basenhaltiges essen. Und Säurehemmer gibt’s ja auch. Dass Ihr Körper nach solch emotionaler Achterbahnfahrt reagiert ist nicht verwunderlich und wenn der Magen seit je Ihr Schwachpunkt ist, nun dann reagiert der Körper eben dort.
Durchhalten müssen wir tatsächlich mitunter, ist unebfriedigend und anstrengend. Aber Sie haben bestimmt Routine darin und wissen, es kommen auch wieder andere Zeiten. Gute Besserung!
Auf den Bauch legen ist manchmal ganz gut, je nach dem. Es kann in manchen Fällen enorm entspannen, und darauf kommt es bei gewissen Schmerzen ja an. Hat bei mir schon erstaunlich gewirkt.
Ansonsten fällt mir nur Wärmflasche ein. Oder diverse Alkoholika, aber die scheiden ja aus. Topinambur insbesondere. Schmeckt so scheußlich, dass man garantiert die Schmerzen vergisst.
Gute Besserung.
Re 14:47 Ich habe >>>>> hier nochmals versucht, zu erklären, weshalb das Treffen mit Ihnen für mich sehr speziell war. Nebst einer sehr persönlichen Bedeutung (ich schätze Sie als Person und Mensch sehr und freue mich ungemein darüber, Sie kennengelernt zu haben) ergibt sich jedoch auch eine zusätzliche Bedeutung vor dem Hintergrund Ihrer Literatur und Ihrer Positionen zu Themen wie Realität, Fiktion und Virtuellem. Diese ist es vor allem, die ich zu thematisieren suche.
Sehr selten trifft man ja jemanden, der sein Leben derart radikal zu Literatur macht. Von aussen besehen trafen sich zwei Menschen. Ich aber traf eine Romanfigur. Das ist schon ungeheuer!
Herzlichst, Ihr
Markus Hediger