4.49 Uhr:
Es ist, wenn man sehr früh aufstehen möchte, so eine Sache, früher als gewohnt ins Bett zu gehen: Es erwischt sich dann am Morgen nämlich schnell mal eine Tiefschlafphase. Aber egal, ich s i t z e ja am Schreibtisch. Es ist nicht kalt, aber mau, was unangenehmer ist; richtige Kälte in der Wohnung klärt den Geist. Dieses Maue läßt ihn dumpfbackig werden und einen auf eine Weise vor sich hinhüsteln, die abermals keinen Langstreckenlauf erlaubt. Na gut. W a r ja trainiert, das kommt schnell wieder.
ARGO, den latte macchiato; am Wochenende hab ich die Arbeitsklamotten mitgewaschen im Waschsalon, weil die Ratzen sie markiert hatten… und ja sowieso. Nun müffle ich nach Seife, als stiegen HygieneWölkchen von mir auf. So Jungs… ähm, & Mädels… raboti! (So pflegte meine geliebte Oma zu sagen; auch von der wäre mal gelegentlich zu erzählen…nein, grausamer- und ungerechterweise von ihrem Mann. „Ein Vogelfreund“ soll die Erzählung heißen.)
ARGO grrrr! (Ich probier mal aus, das ‚Tagebuch‘ morgens mit auf die Hauptseite zu stellen und über den Tag dann in der TagebuchRubrik verschwinden zu lassen.) – „A R G O !“ — und aus dem Internet wieder… r a u s.
7.55 Uhr:
ARGO, aber zwischendurch ein, sagen wir, pornografischer Anphall, der sich gegen halb sieben eines heftigen Müdigkeitsansturms erwehrte. Das hat schon seine Komik, wie ich von sowas ganz unmittelbar in den politischen Dialog zwischen der Terroristin und dem Polizisten zurückschalten kann, aus dem wiederum Kalles, eines Taxifahrers, Liebesbegegnung mit Dolly II entsteht. Außerdem hab ich mir nebenbei die eine Fotografie meines Jungen und seiner Mama als DesktopHintergund auf den Laptop gelegt. Und einen Tee bereitet, den ich nun aus einem der beiden Steingutbecher trinke, die wir gestern vom Weihnachtsmarkt mitgenommen haben. Dazu, in einer nächsten Schublade meines Hirns, ein paralipomeneskes Formulierungsproblem sowie ein an ein Zitat bei Negt/Kluge assoziierter Zusammenhang, beziehungshalber mitgedacht: nämlich, ebenso ausschließend, g e g e n das LiebesPostulat gewandt, das ich zugleich doch vertrete. Den Heidegger noch obendrauf. Ich darf nicht vergessen, daß ich meinem Jungen noch was in die Schule vorbeiradeln muß. Der Nikolaus kommt ja morgen zur Mama, bei mir, also drüben an der Kinderwohnung, geht er diesjahr vorüber.
20.09 Uhr:
Bis eben durchgearbeitet, ARGO ff, Skizzen für den Vortrag notiert, die HeideggerLektüre in erstem Durchgang abgeschlossen. Außerdem die Kinderoper-Kritik verfaßt und ans Opernnetz rausgeschickt. Mittags eine Stunde Tiefschlaf. Jetzt noch etwas Kleist lesen (Die Verlobung in St. Domingo), dann aufs Rad in die Bar, wo ich G. treffe und einiges mit ihm besprechen will und muß. Meine Absicht, mich auf einen PrivatKonkurs einzulassen, erhärtet sich. In sieben Jahren wird mein Kleiner kaum 13 sein, und die eigentlichen Ausbildungskosten werden beginnen. Dann wäre ich schuldenfrei und könnte entsprechend für seine Ausbildung verdienen. Vielleicht sieht dann die Bekanntheit und vor allem Akzeptanz im Literaturbetrieb auch anders aus als jetzt, wo ich mich abstrampeln kann, wie ich will, ich verdiente in jedem CallCenter mehr . Gemessen an den Schulden wäre aber auch das nur prolongierende Verschlepperei. Gut – oder schlecht, wie man nun will -, darüber muß ich sprechen. Am 13. will die Amexbank das Mahnverfahren einleiten, dann knallt es ohnedies. Oder man bekommt die Bank dazu stillzuhalten, wie ich sie bereits schriftlich bat.
Mit der Arbeit jedenfalls bin ich zufrieden. Der Kopf ist ganz erfreulich da. Es könnte also schlimmer stehen.
Langes Gespräch mit G. über das Netz und die Anthropologische Kehre. Dabei kam er auf den Gedanken der Zersplitterung: Das Fraktale des Netzes nannte er das, und wir erstritten uns die Überlegung, daß es genau das sei, was es unmöglich mache, daß sich aus den sich im Netz zusammenfindenden Partikularinteressen eine politische Bewegung formiere. – Diesen Gedanken sollte ich in den Vortrag übernehmen: Die Anthropologische Kehre ist möglicherweise zwar nicht an sich unpolitisch, aber bleibt v o r einer politischen Folge als eine ‚reine’ Erkenntnis stehen.
G. hat eine vor allem funktionale Sicht aufs Netz; der Gedanke, es bedürfe eines Perpektivwechsels auch psychisch-objektiver Veränderungen, kam ihm erst nicht. Bis er sagte: „Diese Sache damit dem Menschenfresser… du weißt schon, der Typ, der freiwillig seinen Schwanz hat braten lassen und dann mit aufgegessen hat… das wäre ohne das Internet nicht möglich gewesen.“ Eben. Die rein quantitative (funktionale) Bestimmung – „praktisch“ usw. – schlägt in eine um, die qualitativ ist. Das war ja eben nicht irgend ein Vergehen, sondern brach deutlich eine anthropologische Tabugrenze. Nicht der Mord war hier der Skandal, sondern die Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und die vorherverständigte Lust daran.
(Meine Idee mit dem Privatkonkurs nennt G. übrigens ‚vernünftig’: „Das könnte eine Möglichkeit s e i n“, sagt er sachlich. Und ich darauf: „Ja.“)