19 thoughts on “Jede Versagung ist ein Mord.

  1. Ihre Paralipomena haben, soweit ich es überblicke, kaum je eine Reaktion hervorgerufen, wie es ja überhaupt die eher ephemeren Einträge sind, die zu Kommentaren führen. (Ich komme nicht von meinem Thema los, der TdlW.) Wie kommentiert man aber auch einen Aphorismus? Beifall? Behaupten des Gegenteils?

    Im konkreten Fall scheint mir die Sache aber zu glatt auf eine Anti-Enthaltsamkeits-Haltung hinauszulaufen. Das Ende ist ja geradezu harmlos. Mir scheint der Satz sprachlich wie gedanklich schärfer gefasst werden zu müssen.

    Mir fällt dazu u.a. folgendes ein:
    1. Wenn das Versagen schon Mord ist, dann obendrei zu noch einem führt, sind es schon zwei (Morde).
    2. Wir versagen uns die Morde und gestatten uns die Totschläge (plädieren aber im Bedarfsfall nicht auf verminderte, sondern erhöhte Zurechnungsfähigkeit).
    3. Wir versagen uns ein Widerwort, ein Ausweichen, ein Weggehen, eine Frage, aber gestatten uns einen Mord.
    4. und das fiel mir spontan zu ihrem Satz ein: Ich kenne zumindest zwei Menschen (ich bin einer davon), die alles mögliche schlucken (sich versagen), wegen irgendeiner Lappalie dann aber explodieren (wenn es auch nicht gleich zum Mord führt, Beziehungen und Freundschaften werden da schon mal getötet). Wir sitzen im Fass, und der Tropfen, an dem wir zu ertrinken glauben, bringt es zum Überlaufen. Meist war es aber nur ein kleiner Hustenanfall.

    1. Auch in d e m Sinn. M e i n e ich den Mord.

      [Der NachSatz zur Enthaltsamkeit gehörte eigentlich, wie d i e s hier, in kleinerer Schrift unten hinterhergesetzt: er öffnet eine andere Assoziationslinie, die in diesem Fall mit dem I Ging und asiatischen Lebensmaximen insgesamt zusammenhängt, wie sie jetzt d o r t und darüber andiskutiert werden.]„>

    2. Übertragung Nachdem Sie die Linie freundlicherweise hierhergezogen haben, möchte ich gleich hier sagen, dass ich die Einschätzung Ihrer folgenden Sätze nicht teile:

      „Wieso soviel Wert auf fernöstliche Philosophie? Meinen Sie im Ernst, dieser nahkommen zu können, wenn Sie Europäerin sind? Meine und vieler Erfahrung in Japan hat mir gezeigt, daß manche Dinge gerade nicht übertragbar (und also auch nicht übersetzbar) s i n d.“

      Wenn man sich die Übertragungsleistung von 2000 Jahren Christentum anschaut, wird’s wohl für ein paar fernöstliche Philosophien/Religionen auch noch langen (beileibe nicht für alle, da gäbe ich Ihnen recht; manche haben einfach gar keinen universalen Anspruch, von Missionseifer ganz zu schweigen). Vielleicht dauert es ja wieder ein paar Tausend Jahre, aber unmöglich? Und wo wären wir ohne all die Übertragungs- und Übersetzungsleistungen? Würden wir nicht immer noch „in Turnschuhen durch die Wälder schlurfen“ (Benn, wohl nicht wörtlich aus dem Gedächtnis zitiert)? Und wenn man hierzulande mal versucht, dergleichen abzuschütteln und zurück … brrrrrr!

      Im übrigen klang mir das „Meinen Sie im Ernst … “ ein kleines bisschen unfreundlich, aber das war ja vielleicht der vorangegangenen Ausienandersetzung geschuldet 😉

    3. @padregiovanni – zu: „Wie kommentiert man aber auch einen Aphorismus? Beifall? Behaupten des Gegenteils?“

      E i n e Möglichkeit:
      Man nimmt ihn als Initial eines Rengaspiels

    4. Nein, in der Tat, es w a r nicht unfreundlich gemeint. Dennoch ist meine Skepsis Übersetzbarkeiten gegenüber sehr groß geworden. „Nach einem Tag Japan kann man ein Buch darüber schreiben“, heißt ein Aphorismus, „nach einer Woche eine Erzählung, nach einem Monat verstummt man.“
      W a s es allerdings gibt, das sind Nachdichtungen, die ihrerseits zu etwas ganz Neuem führen, das durchaus von großer Schönheit, Würde und auch Wahrheit sein kann. Es ist aber nicht mehr das, was es als Original gewesen ist. Zumindest können wir wenig darüber sagen.
      (Ein Reflex dieser Fragestellung spiegelt sich in der lange darüber geführten Diskussion, ob Alte Musik auf Historischen Instrumenten aufgeführt werden müsse. Ich habe hier sehr früh die Position vertreten, daß niemand von uns Zeitgenossen mehr h ö r e n könne, wie seinerzeit gehört worden ist: denn die Erfahrungen unseres Ohres sind prinzipiell andere. Dieses gilt für die Übersetzung ganz ebenso und führt sogar innerhalb zweier einander sehr naher europäischer Kulturräume dazu, daß meine Erzählung DIE NIEDERTRACHT DER MUSIK mit LA MISÉRE E LA MUSIQUE übersetzt werde mußte und eben nicht mit einem eigentlich – inhaltlich – richtigen L’INFAMIE DE LA MUSIQUE.)

    5. Ihr Kommentar ist (für mich) so vieldeutig, dass es (mir) fast wehtut. Immerhin weiß ich jetzt, was ein Renga ist. Falsch: Ich weiß, wie das heißt, was ein Renga ist.

      Wäre übrigens ein hübscher Nickname für ein Dschungelmitglied: Renga.

      Dazu die Frage: Betrachteten alle Leser die Dschungel als Renga und handelten entsprechend: Gelangten die Dschungel zu Ihrer wahren Bestimmung oder gingen sie ganz schnell zugrunde?

    6. Einverstanden Im Sinne der Nachdichtung h a t t e ich es auch gemeint.

      Wie empfinden Sie den französischen Titel? Als in Kauf zu nehmenden Kompromiss? Als gültige Variante? Als Erschließung neuer Felder? Ich wäre Ihnen für einen Hinweis darauf, warum es „wörtlich“ im Französischen nicht ging, dankbar. Hat das auch mit Prioritäten zwischen Philosophie, Sprache und Literatur zu tun? Ist die deutsche Sprache „reicher“ in diesem Sinne, gefährdeter auch im Sinne Benns: „Wer seinem Weltbild sprachlich nicht gewachsen ist, den nennt man in Deutschland Seher?“

      Ihre Äußerungen zur Alten Musik entsprechen vollinhaltlich dem, was ich heute im Begleittext einer Monteverdi-CD (Ermitage ERM 138) gelesen habe. Damit ist mein Harmoniebedürfnis vorerst gestillt. 😉

    7. @padregiovanni – folgendes Werbe-Motto der Fiktionäre: „Ob gerühmt oder zumindest als Geheimtip literarischer Genießer gehandelt, ob als stilistischer Stümper niedergemacht, verspottet oder gar totgeschwiegen – Herbst hat mittlerweile eine literarische Handschrift entwickelt, die ihn meines Erachtens zu einer der Führungsfiguren der ästhetischen Postmoderne werden läßt.“
      Wilhelm Kühlmann, EUPHORION, Heft 4, 2003

      verwehrt Rengaspielern „Die Dschungel“.
      Ist „einer der Führungsfiguren der ästhetischen Postmoderne“
      in s e i n e m eigenen ö f f e n t l i c h e n Raum präsent,
      ist keine Raumzeit mehr für freies rhizomatisches Spiel.

    8. Daß sich aus „Führungsperson“ ein „Ausschluß“ ergibt, ist für mich nicht erkennbar. An der gemeinten Stelle steht doch eine der, nicht die. Doch stünde „die“ da, bedeutete es immer noch nicht, daß man es glaubte. Und weiter: Es nicht zu glauben wiederum, bedeutet nicht, auf Einspruch zu verzichten – oder auf Entwicklung. Ich persönlich zweifle allerdings, darin mit ANH einig, am Freiheitsbegriff, das heißt daran, daß etwas ein freies Spiel sein könne. Eher vermute ich die Wirkung von Programmen: auch solchen biologischer Art. Wirken die aber, schließt das wiederum, wie ‚Moosbach‘ jetzt gezeigt hat, die Entwicklung von Rhizomen nicht aus.

      @ Sukov: Soviel ich davon verstehe, ist mit Postmoderne ein ästhetischer Epochenbegriff gemeint, vergleichbar dem Rokoko oder der Renaissance. In dieser war ja auch nichts oder nicht alles eine Wiedergeburt, sondern eher Anleihe von stark auf Entwicklung angelegter gebundener, wieder und zwar anders in Gang gesetzter Form. Als Epochebegriff kommt mir Postmoderne – unabhängig von der eher ungelenken Begriffsbildung selbst – ausgesprochen praktikabel vor.

    9. Was viele am Begriff „Postmoderne“ so stört, ist ja vor allem der eindeutige Bezug auf etwas anderes, nämlich die Moderne. „Wieder“ (wie in Renaissance) mag ja noch angehen, aber „nach“? Wo schon alles vorbei ist? Das muss bei der gegenwärtigen „Mittendrin-statt-nur-dabei“-Mentalität ja als Provokation empfunden werden. Immerhin nennt man im Sportfernsehen die zeitversetzte Ausstrahlung eines Fußballspiels ja auch nicht mehr Aufzeichnung, sondern? Re-Live.
      In diesem Sinne schlage ich für Verächter des Begriffs Postmoderne den Begriff Re-Moderne vor.

    10. Epoche Eben das – die Postmoderne als Epoche – scheint mir eine Überhöhung zu sein. In ihrem Vorkommen als Philosphie fällt sie hinter den Kenntnisstand der Aufklärung zurück. Sie ist rückwärtsgewandt, jedenfalls dort.

      Dort, wo sie in der Kunst vorkommt, mag sie als Artbeschreibung dienlich sein. Eine Epoche scheint sie mir nicht zu sein. Schriftstellerisch ist mir im Übrigen nicht nur bei der Postmodernen, sondern generell unklar, was die Zuordnungen sollen. Sie betreffen doch allenfalls Teile eines Werks. Wo ließe sich Heinrich Heine treffsicher verorten? Was in der Malerei noch gelten mag, scheint mir für Wortwerke ungültig zu sein.

      Ich halte, sozusagen im Großen und Ganzen in der Tat die Postmoderne für eine Einbildung.

    11. Ich nicht. Da es sehr klare StilBestimmungen gibt. Etwa der Rückgriff auf die Tonalität, auf den Mythos,die Skepsis gegenüber ‚vernünftigem Fortschritt‘ usw. Stiltechnisch ist Heine ganz deutlich zuzuordnen, geradezu paradigmatisch, was danach in dieser Art kam, war und ist epigonal – es sei denn, es wurde collagiert. Die Moderne war auf Auflösung aus oder auf Expression, die dann im Zweiten Weltkrieg detonierte. Danach versuchte man einen neuen Realismus; die Moderne wurde fast abgeschafft – eine ausgesprochen annorektische Bewegung in der Literatur und der Musik.Parallel entstanden aber schon epochale postmoderne Romane und Musiken: Allan Petterssons, Wolf v. Niebelschütz‘, Gaddis‘, Pynchons usw. Eine Geschichte dieser Ästhetik umreiße ich, stets im Nebenbei, in meinen literaturtheoretischen Texten. Wobei ich mir des Umstands bewußt bin, daß ich eine soloche Geschichte damit zugleich s c h a f f e. Genau das wieder gehört ins postmoderne Denken: läßt sich nicht mehr nur-kritisch fassen, sondern ist immer auch ein Teil von Affirmation.

    12. Ich gebe Ihnen völlig recht Als Epochenbegriff taugt Postmoderne gar nichts, obwohl ich den Wert von Epochen- ebenso wie Gattungsbegriffen als „empirische“ Größen im Sinne Benedetto Croces nicht bestreiten würde. Bestenfalls wissen zwei, worüber sie gerade reden. Das tun wir, Sie, ANH und ich, gerade in diesem Moment aber nicht. ANH hat uns aber gerade ungefähr gesagt, wie er die Traditionslinien zieht. Das kann man um der Klarheit willen akzeptieren oder nicht. Ich vermute aber nicht, dass er 95% aller Romane, die tagtäglich in unseren Feuilletons besprochen werden, zu Postmoderne zählen würde. Alos geht es nur um ein kleines Traditionsrinnsal, das zugegeben zeitweise stärker anschwillt, aber doch nur ein Drähtchen im Kabelstrang gegenwärtiger Möglichkeiten darstellt.

      Genausogut könnte man die von ANH genannte Traditionslinie auch Konspirationismus nennen (Pynchon, R.A. Wilson, Eco, ANH, de Lillo, Krausser … )
      Allein der Rückgriff auf Tonalität und Mythos erlaubt ja nicht einmal, die Postmoderne vom formal so regressiven Pop zu unterscheiden.

      Und wer wäre der Postmoderne par excellence? Doch wohl Borges, den Blindheit und Tod offensichtlich ins Pantheon der Moderne entrückten. Wie man überhaupt vermuten darf, dass es ohne die Rezeption der südamerikanischen (und zum Teil italienischen) Literatur ein Etikett Postmoderne nicht gäbe.

    13. Die Paradoxie wohnt ihr, der Postmoderne doch aber schon deshalb inne, weil sie Teil der von ihr als Metaerzählungen angenommen Revisionskreise ist, insbesondere der Geschichte. Nur dann, wenn angenommen wird, das Individuelle Jedes sei so sehr aus einer betrachtungsfähigen Draufsicht gelöst, dass jede Revision unmöglich richtig sein könnte, weil sie das Individuelle nicht erfassen kann, sondern nur die Ansicht. Also das Innere fehlen würde. Diese Übertragung der Heisenbergschen Unschärferelation auf Geschichte usw. schlägt meiner Meinung nach aber fehl. Denn die sog. Metaerzählungen betrachten ja die Wirkungen von Handlungen und die Aufformung von methodischen Ansätzen, Politik usw.

      Bezüglich Heine ist meiner Meinung eine eindeutige Einordnung nicht möglich. Er gehört zum „Jungen Deutschland“, also einer Erscheinung des Vormärz ebenso, wie zur Neuen Romantik und zur Neuen Sachlichkeit. Er ist insofern in verschiedenen Epochen zu Hause.

      Allerdings halte ich die Epochierung von Kunst grundsätzlich für eine Krücke. Es erleichtert schlichtweg die Einordnung von Künstlern – ist also ein Mittel zur Sprachverkürzung. Grundsätzlich scheint mir jedes große Werk, also z.B. Deines, nichts anderes zu sein, als das Werk an sich. Das Gewicht löst es aus der Zuordnung. Man mag einen Monet dem Impressionismus zuordnen, letztlich ist eine Monet ein Monet. Das hat mit meinem Verständnis von Kunst zu tun. Ich halte die Methodik der Kunstforschung für kein geeignet Mittel des Künstlers, sich zuzuordnen. Schon deshalb, weil die Verbindungslinien doch über die Epochen gehen. Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint, es gäbe bei Dir eine starke positive Bezüglichkeit zu Thomas Mann (z.B.), so wie es bei mir eine starke Verbindung zu Villon und Majakowski gibt. Ich vermute, dass wirkt sich auf den Stil aus, jedenfalls bei mir. Und auch wenn er eigenständig ist, was er in der Tat ist, so wurzelt er doch auch in unseren Affinitäten.

      Revision meine ich als Nachschau – also als buchhalterische Methode, nicht im Sinne von Neuberechnung, also nicht im Sinne von revisionistisch.

    14. @LeanderSukov Ich war ja nicht direkt angesprochen, möchte als Leser aber anmerken, dass ich Deinen ersten Absatz überhaupt nicht verstanden habe, was ich umso mehr bedauere, als wir ansonsten völlig einer Meinung sind.

      Die Kombination Heine – Neue Sachlichkeit ist allerdings im Sinne deiner Argumentation unzulässig. Ich wette, ANH würde die Neue Sahlichkeit (was immer das war, eine Handvoll Autoren mit einem Bruchteil ihres Werks) als Heine-Epigonentum bezeichnen. (Und wieso Neue Romantik?)

      Dass sich ein Autor auch mit Hilfe kunstkritischer, -theoretischer und wissenschaftlicher Methoden in eine Tradition einschreibt oder versucht, eine neue zu begründen, halte ich nicht für bedenklich. Ob man das als Schale oder als Gerüst betrachtet, ob es mit der Zeit abfällt, aufbricht , abgebaut wird und nur das Werk übrigbleibt – ob man es als integralen Bestandteil des Werks wahrnehmen wird und es das Werk vielleicht sogar überdauert, ist dem gegenüber sekundär.

      Im übrigen könnte man ANH sicher auch in die Tradition der Schwarzen Romantik nach Magris stellen. Wenn man damit das Werk erhellt. Und wenn man’s kann.

    15. Damit kein Missverständnis aufkomme, möchte ich auf jeden Fall anmerken, dass ich selbstverständlich nichts gegen die Eigendefinition ANHs als postmoderner Autor einzuwenden habe. Das ist sein gutes Recht, natürlich. Ich würde auch nicht in Abrede stellen, dass man sich zuordnet um Verbindungslinien aufzuzeigen. Ich bin ganz offenbar in eine argumentative Sackgasse geraten. Ich muss folglich wenden.

      Mir ging es um die Frage, ob über den Erschaffer hinaus eine Einordnung von Kunst einen anderen Zweck haben kann, als eine buchhalterische. Das erschiene mir bei der Postmoderne, die insbesondere im ihrem politischen, also philosophischen Bereich erheblich umstritten ist, ein schwieriges Unterfangen. Wer sich selber aber so einordnet, tut es aus gutem Grund. Weshalb darüber streiten?

      Hinsichtlich Heines Einordnung habe ich im Übrigen genauso viele Bauchschmerzen, insbesondere, weil er stilistisch aus seiner Zeit fällt. Nicht als einziger, aber als einer der wenigen, die sich einer Sprache bemächtigen, die in ihrer Sachlichkeit im Vorgriff stattfindet.

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