Dienstag, der 10. Januar 2006.

6.52 Uhr:
[Händel, Rodrigo.]
Mir träumte: Es liegt Schnee auf den Gleisen.
Endlos lange gestern nacht mit A. gesprochen, erst Tapas essen gewesen, dann mit ihrer LabradorHündin noch durch das nächtliche winterkalte Bamberg spaziert, an der Regnitz entlang, dann bei A. in der Wohnung Absinth getrunken und Rotwein aus Gläsern, deren Bäuche den Umfang kleiner Kinderköpfe haben. Es wurde – was wir merkten, aber nicht realisierten immer später… als ich dann in der kleinen Ferienwohnung war, stellte ich fest, meine Armbanduhr war stehengeblieben, nämlich zeigte der Laptop 1.32 Uhr an. Sofort rief ich bei A. an, denn sie hatte an sich noch einmal wegfahren und Unterlagen für die Zeitung holen müssen, Werbevorlagen aus der Gastronomie, irgendso etwas… aber sie nahm das Gespräch nicht mehr entgegen. Als ich ins Dunkel des hölzernen Flures trat, saß dort auf einer ins Plateau dieser Zwischenteage gestellten Couch ein Mann, es wirkte, als hätte er den Mantel anbehalten und den Kragen hochgeschlagen. „Guten Abend“, sagte ich zu dem Schatten, mehr war eigentlich nicht zu erkennen. „Guten Abend“, erwiderte er, rührte sich aber nicht; ich hörte auch kein Geräusch hinter mir, als ich die Stufen hinabknarzte, um nach rechts auf den Hof zu treten und in meine Bleibe heimzukehren.
Heut früh soll ich A. um 8.15 Uhr anrufen, weil sie mich zum Bahnhof fahren möchte… nun ja, ich werde es fairnesshalber einzweimal bei ihr klingeln lassen, dann aber lieber zu Fuß gehen, damit sie zu ihrem Schlaf kommt. Sie war gestern schon sehr angestrengt, so kurz vor Druck einer Zeitung, bzw. Wochenmagazins ist so etwas normal. Es sind auch kaum 25 Minuten von hier bis um Bahnhof zu gehen, ich kenne von 2003 noch den Weg. Um 8.50 geht der Zug nach München und dort um 11.30 der andere weiter nach Innsbruck. Bamberg liegt, ‚fahrzeittechnisch’ tatsächlich genau auf der Hälfte zwischen dort und Berlin.
„Rauch doch eine“, sagt die Verführerin im Lokal, „nur für mich.“ Und durchbricht mein Eisen mit der lächelnden, an meine Selbstachtung gehängten Satz: „Du hast Kraft genug, es nur diesen Abend zu tun.“ „Eigentlich dann lieber“, erwidere ich, „eine Zigarre.“ Die gibt es natürlich nicht, und es ist wohl auch besser so; sonst lockte mich nun der Geschmack. So habe ich das schale Gefühl leeren Rauches im Rachen, außerdem stinken die Klamotten, so daß ich das T-Shirt gewechselt habe, obwohl ich es mir sonst ohne weiteres leisten kann, Hemden und T-Shirts zweidrei Tage lang zu tragen; ich rieche ja kaum. Nun sitze ich an dem kleinen Tich direkt neben dem großen Bett, tippe und spüre meinen schweren Augen und einem leichten Kopfschmerz nach, einer durch dichten Nebel zu Boden gleitende Krähe, bevor sie ihren Schwung mit energischem Flattern abbremst. Dazu trinke ich süßen Kaffee, französisch in einer Bodoum hergestellt. Gestern nämlich hatte ich, am Berliner Ostbahnhof, einen so preiswerten Espresso bei LIDL gesehen, daß ich neben dem Reiseproviant kurzerhand auch diese Dose für die Arbeitswohnung mitnahm. Nun tut der Kaffee hier beste Dienste. Dafür hab ich keine Zahnpasta mehr im Necessaire gefunden… na gut, es gibt noch Äpfel auf dem Teller, den mir A. gestern vor die Tür gestellt hatte. Sie ist verliebt in ihre Heimatstadt, wie ich so etwas, zumal bei so jungen Menschen, lange nicht mehr erlebt habe: verbunden im organischen Sinn. „Da ist“, sagte ich, „viel München in dir. Aber Heimat, das ist, das spür ich, für dich diese Stadt.“ „Du wirst dich wohlfühlen, das weiß ich“, sagt sie, in meinen rechten Arm gehangen, die Labradorin läuft uns federnd ins Dunkle voraus. Ich komme mir vor wie nach einer Zeitreise ins Alte Deutschland gelandet, die Stadt hat etwas von Kafka; und das erzählte A. auch, daß sie mit ihrem jetzigen Freund – „Mann“ sagt sie immer, wenn sie von ihren Partnern spricht – über Silvester in Prag gewesen und daß Prag wie ein größeres Bamberg sei. Daran ist vieles. Ich muß an Textmaschinen denken, was Erzählungen meint, die mit der Notwendigkeit präziser Instrumente funktionieren; es gibt kein nach Nebenan. So auch bei Kleist. Für mich ist es das, was ich, übergeordnet als Struktur, Allegorie nenne und wie Schicksal fühle. Trifft uns eines, verwirklicht sich durch uns eine Allegorie, dann werden wir intensiv. Denn die Allegorie hat die Glut all derer bewahrt, durch die sie bereits ging, und überträgt sie in uns, und wenn sie aus uns wieder hinfortflieht, ist ihre große Glut um unsere eigene z u d e m bereichert.

(Ich weiß noch nicht, wann und wo ich dies einstellen werde. Wahrscheinlich erst in Innsbruck.)

8.54 Uhr:
[ICE Bamberg-München.]
Werd ein wenig schlafen. Aber jemand in diesem Waggon riecht furchtbar ungewaschen. Am Sitz nebenan schläft eine ausgesprochen attraktive kleine Frau um die vierzig, vor sich eine Geriatrische Krankheitslehre, die Waden auf dem längsliegenden Samsonite aufgelegt, die anrührend schmalen Füße in viel zu großen Wollsocken erreichen gerade den gegenüberliegenden Sitz. Mir gegenüber liest ein bartstoppeliger, auch glatzstoppeliger Mann, der trotz der Überheizung im Waggon über dem dicken Wollpullover die gefütterte Jacke anbehält, einen KENTUCKY Sammelband: zusammengefaßte GroschenWestern im ZweispaltenDruck. Und der vordere Teil des Wagens ist voller Polizisten.

10.32 Uhr:
Soeben weckt mich eine SMS aus Wien, die nun, wie ich es ahnte, absagt. … Koffer gepackt, kämpfe mit mir, bin wie gelähmt. (Kann nicht, kann nicht!) Und muß mir endlich eingestehen: Bin noch nicht soweit! Lange nicht! (Vielleicht bin ich es nie.) Es tut so weh, Dich zu enttäuschen, wünschte, ich wäre stärker, könnte Dir zur Seite sein, ohne Gefahr, jeden Moment zusammenzubrechen. Das muß ein Ende haben. Bitte ruf nicht an, denke ohnehin jede Minute an Dich, jede einzelne! Von ganzem Herzen alles Gute. Lilith, Deine!Daraufhin ich:Dann beende ich hiermit unseren Kontakt. Ich lebe in der Wirklichkeit und nicht im Wahn und will mich an der Lüge nicht infizieren, die Du zelebrierst.
Man wird eine neue Krankheit, eine Netzkrankheit, definieren müssen, um eine Therapie zu entwickeln, die den betroffenen Frauen hilft. Das ist nötig, da diese Krankheit – nennen wir sie NFS (NetzfrauenSyndrom) – in der Tat ansteckend ist. Ich habe es in einigen Fällen am eigenen Leib gespürt und der Erkrankung dieser Frauen auch noch zugespielt: Es ist wie bei einer Alkoholikerehe, die ja a u c h eine eingespielte Dynamik zelebriert. Insofern bin also ich selbst für NFS durchaus anfällig, es besteht kein Grund, mich drüber zu erheben; was mich bewahrt, sind alleine die hartnäckig von mir aufsteigendenden Testoronwolken… was >>>> eb’s Spott nun mit Dankbarkeit quittiert.
Interessanterweise bin ich jetzt nicht einmal sauer oder verletzt, auch nicht eigentlich traurig, sondern ich spüre so eine Art… ja: desinteressiertes Mitleid… ungefähr wie ein medizinischer Forscher, dessen Neugier von einem Symptom geweckt ist, das er untersuchen will. Denn die so erkrankten Frauen gehen ja vor der Webcam sehr weit, sie ziehen sich aus, sie onanieren, sie legen sich in die Badewanne, kurz: exhibitionieren sich voller Lust. Manche telefonieren dabei, verführen zu einer Art Telefonsex mit Bild. Und fangen an, wie sie sagen, zu lieben, s a g e n: „Ich liebe dich!“ Wenn es aber darum geht, daß ihnen jemand t a t s ä c h l i c h auch nur eine Hand auf die Taille legen will, dann schreien sie auf vor Lähmung und Angst.
Schneelandschaft draußen. Filigrane Bäume aus Eis auf weißen geriffelten Matten, die von mäandernden, wie frisch aufgeworfenen sienagelben Wegen durchzogen werden. Die Wirklichkeit.



[Netzfrauen, § 22.
§ 21 <<<< ]





Hatte momentan den Impuls, mit ARGO IV zu beginnen, noch v o r der Endkorrektur des Typoskriptes von ARGO III.

[Mir fällt gerade ein: Bei der Akribie, mit der ich unterdessen die >>>> Netzfrauen nachzeichne und ihre Krankheit benenne, muß ich mich eigentlich nicht über >>>> solche und die Angriffe B.J.’s wundern. Die Netzfrau schlägt zurück: ein Film Arnolda Schwarzeneggers.]

11.36 Uhr:
Ich poste das jetzt von einem Wlan der t-mobile im Bahnhof München… —- …nee, funktioniert nicht. Wir standen nicht lange-g e n u g-zu-lange. Jedenfalls hab ich mir nun einmal für alle Fälle einen Zugang von T-mobile aufs Handy schicken lassen, dessen einer Akku ürbigens dauernd abkackt: überaltert wohl, war eh schon vor zwei Jahren bei ebay erstanden. Ich werd es an den nächsten Stationen immer mal wieder probieren, mit dem neuen Passwort ins Netz zu hüpfen. Möglicherweise werde ich die Links und die Bilder dann nachladen> müssen. Immerhin, dieser Zug geht nach Venedig; SEHNSUCHT nenne ich dieser Bild:
… rasiert auf der Zugtoilette… wir fahren in die Höhe……alles verschneit: W e h e n, Buckel, Schütten aus Weiß auf den ausgebreiteten Fichtenarmen…12.13 Uhr:
Kufstein, Grenze; tatsächlich kontrollieren zwei Beamtinnen in Zivil bei einigen Reisenden die Pässe. Ganz offenbar ist das mit einem Vereinten Europa noch nicht so weit. Ich verkniff mir zu fragen, ob ich auch mein Visum herausholen müsse… aber nur deshalb, weil ich selber der Paßkontrolle entging. Ich meine, das ist a u c h schon wieder verdächtig: Sehe ich unterdessen derart angepaßt aus?