Auch Leistung chronifiziert sich. So wie eine Krankheit chronisch geworden sein kann und weiterwirkt, obwohl ihre Ursache sich längst aufhob, kann auch, dieselbe Dynamik ins Positive gewendet, ein Werk bestehen, dessen Initialzündung schon lange verschwand. Bei den Pyramiden, überhaupt bei bleibender Architektur ist das klar, wir merken die Ursache gar nicht mehr, sondern sind perplex und staunen. So auch in den Künsten. Wenn es Ruhmsucht ist, was sie hervortrieb, ob es Eitelkeit sei oder, wie bei Bach, der Wahn, es gebe Gott, das ist imgrunde einerlei: sofern nur etwas entstanden ist. Dieses Entstandene füllt sich sowieso mit den Projektionen seiner Rezipienten. Die nehmen nun, wie ein seelisches Fundament, die Stelle des ursprünglichen Werkmotors ein.
bach „erlag dem wahn, es gebe gott“? bach war offenbar gläubig, religiös meinetwegen. erlag er deshalb einem wahn? dünnes eis …
Ach, solange ANH unsereinem gestattet zu sagen, er erliege dem Wahn, es gebe Kunst (in seinem Verstande, also als Religion Europas), halte ich es noch für einigermaßen tragfähig.
Ich gebe aber zu, auch mein erster Reflex war, mich nun doch meinem Nickname entsprechend zu äußern 😉
Padre, das ist. Eine absolut beeindruckende Replik!
(Und ANH geht beeindruckt – schlafen: denn morgen frueh muss und will er noch auf den Berg.)
Wie.. können sie Architektur von Künst trennen. Vor allem: Wieso?
Als ich, Verwunderte, Ihren Kommentar l a s, dachte ich sponten: die Frau hat völlig recht. Dann fing ich nachzudenken an, weil d o c h irgend etwas nicht stimmte. Jetzt kann ich es beantworten, was Sie fragen:
Selbstverständlich gibt es Architektur, die Kunst ist. Aber nur für die wenigsten Gebäude gilt das. Die große Zahl architektonischer Werke geht auf Nutzbarkeit, nicht auf Schönheit – und nicht auf Erkenntnis, geschweige Transzendenz. Nun gilt das für die meisten Bücher a u c h… doch wird hier ja nicht von Büchern gesprochen, nicht auch von „Bildern“ oder Musiken, sondern von Kunst. Unter den erscheinenden und erschienenen Büchern ist Kunst höchst selten zu finden. Dem entspricht eben die Architektur. An Büchern interessiert mich – hier – einzig die Dichtung; für architektonische Kunst gibt es, meines Wissens, keinen adäquaten Begriff. Daher die Verwirrung, die sich in Ihrer zweifachen – und eben zu einem Teil völlig berechtigten – Verwunderung ausdrückt.
Das Medium Buch wiederum empfindet mein Geist als überflüssig, indes mein Herz weiterhin an dem F e t i s c h hängt, zumal in unserer unmittelbaren Gegenwart das Erscheinen eines Buches immer noch persönliche Aura verleiht und sogar Voraussetzung ist für Akzeptanz, die ihrerseits eine Voraussetzung dafür ist, irgendwie mit Dichtung überleben zu können.
und was ist jetzt mit wahn und glauben/religion?
(dazu schweigen sie wie der österreische bundeskanzler, wenn man ihn unangenehme dinge fragt? :))
sagen sie doch wenigstens, es sein nur eine phrase gewesen oder so.
Ich schwieg, um niemanden weitergehend zu verletzen, als ein solcher Aphorismus, der doch in Zusammenhang und Widerspruch mit vielen anderen steht, für sich alleine vermag. Aber da Sie insistieren und nicht i c h die Frage bzw. meine Antwort darauf als unangenehm empfinde: Mein Verhältnis zur Religion als einem rituellen Spiel ist im WOLPERTINGER-Roman eingehend dargestellt worden; das wissen Sie. Ich akzeptiere die Gottesvorstellung als ein, im Sinne Kants, regulatives Prinzip, das auf spielerische Weise moralische Normen regelt. Wenn aber jemand tatsächlich glaubt, es gebe einen Gott, dann in der Tat meine ich, er sei einem Wahnsystem erlegen, da sich nicht einmal die Wahrscheinlichkeit Gottes beweisen läßt – und l i e ß e er sich beweisen, so wäre das ein Grund, sich gegen ihn auf das radikalste zu erheben: Denn kein Geschöpf ist mir denkbar, daß, Allmächtigkeit vorausgesetzt, derart viel Verachtung verdiente. Man müßte einen Gott, gäbe es ihn, von morgens bis abends bespucken bei all dem Elend, das er zuläßt (aber es reichte schon e i n verhungerndes Kind).
Kein Gott … doch Sehnsucht nach Anbetung Erstes Blumenstück
Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab,
daß kein Gott sei1)
Vorbericht
Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit. Die Menschen leugnen mit ebensowenig Gefühl das göttliche Dasein, als die meisten es annehmen. Sogar in unsere wahren Systeme sammeln wir immer nur Wörter, Spielmarken und Medaillen ein, wie Geizige Münzkabinetter; – und erst spät setzen wir die Worte in Gefühle um, die Münzen in Genüsse. Man kann zwanzig Jahre lang die Unsterblichkeit der Seele glauben – – erst im einundzwanzigsten, in einer großen Minute, erstaunt man über den reichen Inhalt dieses Glaubens, über die Wärme dieser Naphthaquelle.
Ebenso erschrak ich über den giftigen Dampf, der dem Herzen dessen, der zum erstenmal in das atheistische Lehrgebäude tritt, erstickend entgegenzieht. Ich will mit geringern Schmerzen die Unsterblichkeit als die Gottheit leugnen: dort verlier‘ ich nichts als eine mit Nebeln bedeckte Welt, hier verlier‘ ich die gegenwärtige, nämlich die Sonne derselben; das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen- und auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die große, halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.
Auch hab‘ ich die Absicht, mit meiner Dichtung einige lesende oder gelesene Magister in Furcht zu setzen, da wahrlich diese Leute jetzo, seitdem sie als Baugefangene beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden, das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre.
Für andere, die nicht so weit sind wie ein lesender Magistrand, merk‘ ich noch an, daß mit dem Glauben an den Atheismus sich ohne Widerspruch der Glaube an Unsterblichkeit verknüpfen lasse; denn dieselbe Notwendigkeit, die in diesem Leben meinen lichten Tautropfen von Ich in einen Blumenkelch und unter eine Sonne warf, kann es ja im zweiten wiederholen; – ja noch leichter kann sie mich zum zweiten Male verkörpern als zum ersten Male.
*
Wenn man in der Kindheit erzählen hört, daß die Toten um Mitternacht, wo unser Schlaf nahe bis an die Seele reicht und selber die Träume verfinstert, sich aus ihrem aufrichten, und daß sie in den Kirchen den Gottesdienst der Lebendigen nachäffen: so schaudert man der Toten wegen vor dem Tode; und wendet in der nächtlichen Einsamkeit den Blick von den langen Fenstern der stillen Kirche weg und fürchtet sich, ihrem Schillern nachzuforschen, ob es wohl vom Monde niederfalle.
Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht! – Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! – Und womit will man uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels seinen Abgründen entgegenzog? –
Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört‘ ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«
Er antwortete: »Es ist keiner.«
Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«
Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?…
Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«
Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt‘ ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹… Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹… Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«
Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern… als ich erwachte.
Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.
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Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären; so würd‘ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.
Das ist, Herr Paul, ein großartiger Text. Einer der größten, die je geschrieben wurden, sogar. Dennoch ist sein Motor ein Wahn. Für die Dichtung ist das nicht schlimm, sogar gänzlich uninteressant. Die Dichtung ist Dichtung, punktum. Und was für eine! Zum Niedersinken.
Dennoch entstand sie aus einem – Irrtum. Und nicht alles, was sie sagt, ist wahr. Ästhetisch wahr dennoch. Aus diesem Widerspruch bezieht Ihr großer – wirklich mit-welt-größter – Text seine Kraft.
[Ein anderer großer Text, eine andere w a h r e Dichtung, ist Dostojewskis Großinquisitor aus den Karamasovs. Auf eine eigentümliche Weise sind I h r Text und der des Russen ausgesprochen miteinander verbunden.]
Wolpertinger Sie haben mein
1. Blumenstück
im Wolpertinger zitiert
und es in St. Elisabeth, Berlin-Schöneberg
gelesen.
Ich wüßte gern, wie Ihre Zuhörer
meines Stücks damals vor mehr als einem Jahrzehnt
darauf gefragt und geantwortet haben.
Das weiß ich, Frau Paul, nicht mehr. Sehr wahrscheinlich, wie meistens, fragte und antwortete niemand darauf. (Was nichts Schlimmes bedeuten muß, denn auch Zeit spielt für die Erfahrung eine Rolle… Zeit und der N a c h k l a n g.)
Dostojewski Dostejewskis „Großinquistor“ liegt mir sehr am Herzen, Herr Herbst.
Auch Kierkegaards Streit mit seinem persönlichen Gott.
Gerne persönlich kennnengelernt hätte ich den „armen“ katholisch
verwurzelten BB – und auch den Sohn eines pietistischen Pastors,
der in seiner Kindheit selbst der „kleine Pastor“ genannt wurde
und dessen „Antichrist“ in vielen Landsertornistern im 1. und 2. WK.
zu finden war. Auch in Trakels.
Doch hier von Brecht zum Thema:
„Geschichten vom Herrn Keuner
Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe.
Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde.
Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen.
Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden:
Du brauchst einen Gott.“
niemand antwortete … ach ja, die dumpfige, mumpfige, schweigend erstickende
vierte wand der kulturkonsumenten,
die jede provoaktion ihres
so-bin-ich-und-so-bleibe-ich-selbst“wert“-gefühls
als bestätigung ihres
sich-mit-sich-selbst-so-und-nie-anders-wohlwohlwohlfühlens
geniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiessen.
ein musikalisches genie wie bach (der außerdem in einer zeit vor kant lebte, was aber keine rolle spielt) oder etwa mozart, steht weit ab von der frage, existiert (ein) gott oder nicht. ist die frage, ob es gott gibt oder nicht, nicht völlig nebensächlich? wir streiten ja auch nicht, ob es „ding an sich“ existiert oder nicht (natürlich existierte es n i c h t).
was mich irritiert, ist, daß sie das phänomen der religion und religiosität mit einem handstrich als wahn abtun. ich bin selbst weit ab von jeglichem kirchlichen glauben etc., aber ich hüte mich davor, auch nur irgendjemandem seine religiosität zu pathologisieren. wozu sollte das auch gut sein?
ich weiß, was ich weiß; und ich bin immer auf der suche nach dem wunderbaren, außergewöhnlichen, die erdenscheibe hinabstürzenden, hinter die grenzen des alls vordringenden etc etc, aber deshalb kann ich doch auch den glauben j.s. bachs respektieren ohne ihn als wahn zu bezeichnen.
oder wir müssen und alle als wahnsinnig bezeichnen.
dann verliert aber der begriff des wahns seinen sinn, sozusagen.
Es b l e i b t ein Wahn. Ob ich ihn respektiere oder nicht. Auch das Kaffeesatzlesen hat seine Berechtigung. Die Vogelflug-Orakel haben sie. Die Menschenopfer der alten südamerikanischen Religionen desgleichen. Wahn aber bleibt es.
– Das ist aber nur ein Kampfbegriff in der Moderne. Denn wie kann etwas, das mehr Tote und Gefolterte gekostet hat, als sämtliche nicht-relisiös motivierten Auseinandersetzungen sonst, nämlich der – vornehmlcun monotheistische – Glaube noch irgend eine andere Achtung genießen, als daß er eben a u c h Anlaß für mit die größten Schönheiten gewesen ist, die wir kennen? Und hier – in er Religion – ist tatsächlich die Schönheit gegen die Moral zu halten. Ginge es n u r um die Moral, stünde mit recht auf jeder Form eines Gottesglaubens wenigstens 10 Jahre Haft. Die S c h ö n h e i t allein spricht frei. Und der Schönheiten wegen, die aus Religionen entstanden, respektiere ich sie. N u r dieser Schönheiten wegen, der Musik wegen, der Dichtung wegen und wegen der Malerei. (Neuerdings darf ich auch die Architektur nicht vergessen.)
es waren nicht glauben und religion (etwa die bachs), die die vielen millionen kriegstoten gefordert haben, sondern machtgier, habgier, egoismus, eitelkeit und intoleranz weltliche rund kirchlicher funktionäre. sehen sie ratzinger an, wie aus ihm die augen des imperators lugen;
die „kulturleistungen“ der gesellschaften, die in religösen spannungsfeldern von tyrannischen, intoleranten und machtgierigen kirchen entstanden sind, sprechen gerade diese, die kirchen, nicht frei von iherer schuld. ich sehe sie gelegentlich als gegenzauber gegen die repressive macht der kirche.
wer weiß, würden wir leben wie die tiere auf den galapagos inseln, also im „paradies“- vielleicht würden wir keine kunst (und keine religion) brauchen, vielleicht wäre uns das leben kunst und religion genug …
Aber was sie da aufzählen, ferromonte, ist doch alles lauter Wahn: „machtgier, habgier, egoismus, eitelkeit und intoleranz weltlicher und kirchlicher funktionäre“. Die Frage hingegen, die Ihr letzter Absatz enthält, lautet ja genaugenommen: Ist es wirklich besser, dass e t w a s ist, als dass n i c h t s wäre? Und somit unentscheidbar. Aber anders gefragt: Was unterscheidet uns denn von den Tieren auf den Galapagos-Inseln, wenn nicht ein W a h n ? Wie immer wir ihn nennen? Gott, Mensch, Kunst, Bewußtsein?
Sehen Sie, an dem Abend, als ANH dieses Notat einstellte, las ich – nach Ihrem und meinem ersten Kommentar – in einem Buch (und es spielt wirklich keine Rolle, in welchem) sinngemäß oder wörtlich, a l l e s sei Wahn, also jede (mögliche) Wahrnehmung ebenso wie jede Verarbeitung derselben …
Und da meinte ich einmal zu verstehen, dass auch ANH s e i n e n Wahn vielleicht für keinen hält, weil alles Wahn ist, es also keinen Sinn hat, das allgemeine, nennen wir es W ä h n e n, zu partikularisieren in diesen oder jenen Wahn.
Doch wie dem auch sei, ich schmiege mich doch immer wieder recht gerne in den seinen.
„Gott“ … sobald Sie meinen, ihn – als das Sie kreierende und übersteigende und Sie haltende unbegreifbare und Sie begeisternde unbegreifbare
unbedingte absolute ……………………
für ihr leben zu brauchen
ist er Ihnen notwendig …
keinesfalls notwendig ist er Ihnen, wenn Sie allein selbst
Ihr eigener gott sind – und damit in Ihrem leben freude finden …
oder zu Ihrer lebensfreundin eine sphinxfigur auf sizilien erwählen …
es liegt in Ihrem bedürfnis, welche Sie tragen sollende macht
Sie sich einbilden. einbildung nicht als illusion, sondern als kreative
tätigkeit des sinngebärenden kreativen lebens.
es geht nicht um den monotheistischen „Gott“, sondern
um ihre lebenshaltung zu dem, was Sie nicht wissen können,
nicht manipulieren können, nicht durch Ihre kunst bannen und
vereinnahmen können … es ist letzlich egal, wie Sie das nennen …
doch es belibt die tatsache: Sie selbst haben sich nicht gezeugt und
geboren … Sie wissen nicht, warum Sie in dieser welt leben
und Sie wissen nicht, in welcher Sie sein werden. nachdem Sie
diese verlassen haben …. also: alle existentiellen fragen Ihres
lebens und nichtheirlebens können Sie nicht beantworten …
wahn, an „Gott“ zu glauben?
wieso denn, wenn das kunst schafft und lebenslust und lebenskunst
gegen angst vor dem tod?
im bogenschiessen der zen-praxis sind
bogen, schütze und ziel eins –
und sie wären es auch, wenn da kein (materielles) ziel wäre,
und kein bogen und kein schütze.
als ein der medizin nahestehender begehe ich wohl – in ihrem kontext – den irrtum, bei „wahn“ immer auch an psychiatrische fälle zu denken. wenn ich mir einen mneschen ansehe, der an wahnvorstellungen leidet, dann erkenne ich sofort die fließende grenze von wahnsinn und etwa einer exzentrischen persönlichkeit. es geht darum, wie jemand, trotz seiner, nennen wirs jetzt mal in weitesten sinn exzentrik und komplexizität (der umgang mit den vielen wirklichkeiten und seinsebenen ist bei gott(:)) nicht einfach, noch mit dem rest der welt auf punkt und komma kommunizieren kann; sich in seiner wahn-welt UND unserer konsenswelt genau orientieren kann. von insel zu insel hüpfen kann, ohne ins wasser zu fallen.
die tiere auf den galapagos inseln haben keine feinde, sie haben keine angst, deshalb leben sie in frieden und – ohne wahn.
wir verwenden alle das wort wahn in verschiedene bedeutungen, weshalb der disput eher nur dem selbstzweck/selbstdarstellung dient, un unergiebig bleibt.
dann ist halt jeder ach so gescheit und verwendet halt jeder seine vokabeln wies ihm gefällt, was ohnehin immer so ist.
eins aber doch noch: nicht alles, was man bisher nicht messen oder logisch oder rechnerisch nachweisen konnte, muss deshalb nicht existieren – wie sagt hamlet/shakespeare so schön und richtig: „These are more things in heaven and earth, Horatio, that are dreamt of on your philosophy.“
aber eigentlich geht es um religion, und unser -logischerweise- gestörtes verhältnis zu ihr. zumal wir gleich an glaubens-zwänge, hohles gewäsch, bigotterie und heuchelei dabei denken. die kirche hat wenig bis nichts mit religion zu tun, die liebe zur natur und das angerührt sein von schönheit schon mehr.
die vorstellung, man könne ohne jegliche abhängigkeiten autonom und allmächtig hier auf der erde leben, ist ein kind der angst; ja, sicher auch gut genährt von einem monotheistischen glauben, der uns 1500 jahre aufgezwungen wurde. so ein einzelner gott da oben friert in der höhenluft und muß böse und tyrannisch sein, weil er einfach angst hat, so ganz allein in den wolken .. 🙂
Gott ist kein psychiatrisches Problem, bloß eines der Illusion. Wird die Illusion umfassend und verläßt das rituelle Spiel, dann ist von „Wahn“ zu sprechen, indem mit Nachdruck an etwas geglaubt wird, für das es keinerlei Grundlage gibt. Das stimmt für Kunst sicher auch, aber ich käme nie auf den Gedanken, Kunst für einen Seinsgrund zu halten, wenn auch für einen Seinszweck: Kunst wird g e g e n die sei’s Determination sei’s Zufälligkeiten der ‚Natur‘ gehalten, und zwar als bewußter – prometheischer – Widerstand. Gott hingegen entzieht sich per definitionem meinem bewußten Handlungskönnen, zumal wenn er als allmächtig gedacht ist. Insofern sich Ethnien über einen Gott definieren, grenzen sie sich über diesen Gott auch ab. Daraus entsteht mit Notwendigkeit eine Kirche. Sie ist von einem Gott insofern nicht ablösbar; mit diesem Argument machen es sich Christen ‚weißGöttin‘ zu einfach, daß die Kirche etwas anderes sei als der Glaube. Sicher ist sie etwas anderes: sie organisiert den Glauben gegen das Nicht-Glauben (unter dem meist ein Anderes-Glauben verstanden wird). Deshalb gibt es unter Religionen, sofern sie miteinander in Kontakt kommen und auf dem selben Areal Interessen vertreten, mit absoluter Notwendigkeit zu Kriegen, und zwar heute wie früher. Ein Gottesglaube indes, der spielerisch wäre, also regulativ, käme um so etwas herum. Er müßte dann aber auf seine Absolutheit verzichten und sagen: „Mein Gott ist möglich, und der andere Gott auch, und ebenso sind Geister möglich und Elfen und Kobolde.“ D a n n wäre ein Glaube nicht mehr gefährlich und also schöner Wahn wie die Liebe, die ja ebenfalls irrtümlich meint, jemanden um seiner/ihrer selbst willen zu lieben und aus dem gleichen Grund geliebt zu werden, obwohl in Wirklichkeit nichts anderes wirkt als eine Mischung aus Projektionen, Genetik und Pheromonen. Diese Wirklichkeit aber schafft eben keine Kunst; das vermag nur die Illusion, das vermag nur der Glaube.
„…obwohl in Wirklichkeit nichts anderes wirkt als eine Mischung aus Projektionen, Genetik und Pheromonen. Diese Wirklichkeit aber schafft eben keine Kunst; das vermag nur die Illusion, das vermag nur der Glaube. „
sehen sie, dieser IHR glaube ist der an die methoden und ergebnisse der naturwissenschaften. das ist die gängige religion aller westlichen industrialisierten länder, die die früchte der nawi + technik genießen. mit vorliebe betonen solcherart gläubige aber ihren atheismus, ihren nicht-glauben an gott sondern an das nur meßbare, und sie verfangen sich wie alle anderen atheisten in der selben falle: sie sehen ihre eigene gläubigkeit nicht. das ist bisweilen ganz erheiternd, führt aber auch zu konflikten.
ich habe gott nie als psychiatrisches problem/phänomen hingestellt, sondern den wahn. und eben angegeführt, daß wir alle das wort „wahn“ in uns passender bedeutung verwenden, daher kein verständnis erzielen können.
entscheidend ist vielleicht, wie sie oben schreiben, man müsse auf die absolutheit verzichten und sagen: „Mein Gott ist möglich, und der andere Gott auch, und ebenso sind Geister möglich und Elfen und Kobolde.“
eine gesellschaft von selbstständigen, selbst denkenden und verstehenden menschen braucht keine kirche und folglich auch keine intoleranz, keine ausschließlichkeit, keine feinde und keine kriege. ob wir auf dem weg zu einer solchen gesellschaft sind, wage ich zu bezweifeln; es gibt wirklich kein anzeichen dafür, die ideale von aufklärung und humanismus haben sich >> als zutiefst suspekt erwiesen und im augenblick geht die welt in eine neue, die größte sklaverei und unmündigkeit der geschichte überhaupt.
also bleibt mir die utopie, die fantasie, das träumen von einer besseren welt. und natürlich das täglich selber bessermachen. mit oder ohne gott. immer im wahn.
Damit bin ich ja (fast) einverstanden. Auch wenn ich nicht sehen kann, daß unsere zeitgenössische „Sklaverei“ eine größere als in vergangenen Jahrhunderten sein soll… wir werden älter, wir werden nicht von mittelalterlichen Zahnärzten geplagt, unsere Lebenserwartung und unsere Bildung sind höher denn je usw. Die Evolution ist weitergeschritten, daran läßt sich eigentlich gar kein Zweifel haben.
Von Wahn sprach ich hingegen dort, wo gesagt wird: Es gibt e i n e n Gott und wo in das auf ihn bezogene L e h r b u c h eingeschrieben ist: Und sollst keinen haben neben mir. Dort beginnt mit Sicherheit, mit absoluter Sicherheit, der Krieg.
Hinwiederum bin gerade ich nicht einer von denen, die Sie jetzt in mir auszumachen glauben. Ich habe an sehr vielen Stellen darauf hingewiesen, daß gerade das, was sehr wahrscheinlich n i c h t ist, zu Kreationen, also zu etwas, d a s ist, führen kann: Gott, Glaube, Liebe usw., sogar die Vorstellung von Autonomie, also der Irrglaube, man könne sich selbst bestimmen. Zu dem schrieb ich nämlich deutlichst: Ob man das glaube oder nicht, führe jeweils zu anderen Ergebnissen, beides sei wirklichkeitsbildend, und zwar unabhängig davon, ob jedes von beiden selbst wirklich sei.
Mir geht es bei meinen Attacken darum, Ausschließlichkeiten niederzuwerfen: D a s ist der Grund meiner Feindschaft gegenüber dem Monotheismus (den ich im übrigen für verwandt mit Ideologien halte, die Diktatoren befördern: Der Diktator ist ein säkularisierter Gott – weshalb er häufig Wert darauf legt, daß ein anderer Mono’theis’mus keinen Raum in seiner Gegenwart hat).
P.S.: Die Bewegungsrichtung des diese Diskussion auslösenden Paralipomenons ist gerade eine, die sagt: Für die Schönheit, Kraft und Wirklichkeit einer Kreation der Kunst ist es gleichgültig, ob ihr Grund Eitelkeit ist oder der Glaube an einen Gott.
wirklichkeit ist ein ebenso schwieriges wort wie wahn. alles ist wirklich. es ist eine frage des konsenses, der sitten und gebräuche. in animistischen völkern sind geister wirklich, bei uns sind sie wahn. also ist es zwar eine schöne phrase, daß nicht-reales wirklichkeitsbildend sei, die aber ihrem glauben an die wirklichkeit der kunst entspringt, entspringen muß. oder?
ich unterstellte ihnen den glauben an die nawi ergebnisse ja teils auch aus provokation, um etwas anderes zu hören zu bekommen; ja, ich bin einverstanden damit, wenns darum geht, ausschließlichkeiten niederzuwerfen;
„Für die Schönheit, Kraft und Wirklichkeit einer Kreation der Kunst ist es gleichgültig, ob ihr Grund Eitelkeit ist oder der Glaube an einen Gott.“ meinen sie damit, es sei gleichgültig auf welchem weg kunstwerke zustande kommen; oder, daß es für die wirkungsweise von kunst und schönheit egal sei, wie ihr entstehungsgrund ist? oder etwas ganz anderes?
Sowohl den Weg. Als auch die Wirkungsweise. Denn nach einigen Jahrzehnten, geschweige Jahrhunderten hat sich jede autobiografische Intention vom Kunstwerk gelöst und ist, wenn es denn eines ist, in gänzliche andere Intentionen aufgegangen: nämlich selbst zur Folie von Projektionen geworden. (Denken Sie daran, daß der große Gesualdo ein Kindesmörder war, ja jemand, der Kinder mißbrauchte. Freilich war das innerhalb der christlichen Kirche nichts Neues.)
mir persönlich ist es allerdings nicht gleichgültig, wie kunstwerke zustande kommen. nur sind gesualodos kompositionen vermutlich nicht von einem mord inspieriert worden oder gar während des sterbens eines der mordopfer komponiert worden. der charakter des künstlers ist etwas anderes.
wenn ein zeitgenössischer künstler im stil hannibal des kannibalen leichen zurichten und diese als kunstobjekte ausstellen würde, wäre das problematisch, auch wenn kranke gemüter das noch so schön finden würden. ob das jetzt dem banausentum unserer gesellschaft oder etwas anderem anheimgestellt wird, wäre von akademischem interesse.
um wieder zu bach zurückzukommen: er lebte in einer anderen zeit, in der die menschen ein anderes bewußtsein/weltbild hatten wir wir heute, der glauben hatte eine andere position und bedeutung (wie sie wissen). bach lebend und schaffend in der heutigen zeit ist nicht vorstellbar, seine musik wäre nicht der bach den wir kennen, ebensowenoig mozart – die verbreitete ansicht (wir haben sie dem wiener falco zu verdanken), mozart wäre ein popstar in unseren tage, halte ich für völlig daneben. so, wie eine klassikeraufführung mit kaufhausanzügen und poppigem bühnenbild und verstümmeltem text ein ausgemachter schwachsinn ist und nur ein indikator für das offenbare fehlen guter zeitgenössischer stücke, ist bach eben als kind seiner zeit zu sehen. sicher kann man die goldbergvariationen mit akkordeon oder blechbläsern spielen, aber das ist mehr pose und marketing. hören sie die matthäuspassion im wiener musikvereinssaal; dann ist das bach. der geist der kunstwerke wird von den modischen mascherln nicht zerstört, weil er nicht zerstört werden kann – aber es zeugt eben von schlechtem geschmack.
edit: eitelkeit ist sicher keine gute voraussetzung für ein kunstwerk. stellen sie sich mal vor, den werther aus eitelkeit geschrieben. das wäre dann ein fall für frau pilcher oder ihren sohn.
@ferromonte Bis 09:46 war ich mit Ihnen ja noch völlig einer Meinung, und bin es noch jetzt, vor allem, wenn Sie die Unergiebigkeit dieser Diskussion beklagen. Denn, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, mit ANH’s
„P.S.: Die Bewegungsrichtung des diese Diskussion auslösenden Paralipomenons ist gerade eine, die sagt: Für die Schönheit, Kraft und Wirklichkeit einer Kreation der Kunst ist es gleichgültig, ob ihr Grund Eitelkeit ist oder der Glaube an einen Gott. „
sind wir doch alle einverstanden. Insofern gehört diese Debatte natürlich (mein Steckenpferd wiehert) zur Theorie des literarischen Bloggens, als ein guter Lektor ANH viel rascher und mit weniger Aufwand zu solcher Präzisierung veranlasst hätte als wir alle zusammen, die wir den heute im Tagebuch dargestellten Mechanismus reproduzierten:
„NvM: aber sie sind – denke ich – der perfekte partner um zu provozieren und sich selbst provoziert zu fühlen und eben damit in „scheingefechte“ überzugehen, aus denen man dann mit einer „gesunden wut“ flieht, die sich über den eigentlichen schmerz legt (…).
ANH: Das ist jetzt sehr einleuchtend. Dann bin ich ihm in die Falle gegangen.
NvM: ja. so kann man es sagen.“
Nicht einverstanden bin ich nach wie vor mit den Tieren, über die wir einfach (wie über die meisten Dinge) zu wenig wissen, um ihnen Angstlosigkeit, Frieden und Wahnlosigkeit zu unterstellen: Das ist ja auch nur eine Projektion, Wunschdenken – mithin Wahn.
Noch weniger einverstanden bin ich bei aller Übereinstimmung mit Ihrer Kritik an gängigen Aufführungspraktiken damit, dass Bach im Musikverein mehr Bach sei als der mit Akkordeon und Bechbläsern, ist doch der Konzertsaal wie das Museum ein Kind des 19. Jahrhunderts, also der Nach-Bach-Ära. Und das gilt auch für das, was man im Rahmen des Christentums Glaube nennt; irgendwo in der ‚Kritik der zynischen Vernunft‘ gibt es einen isolierten Hinweis darauf, dass auch der ein Kind des 19. Jahrhunderts ist. Ich bezweifle stark, dass sich das Werk Bachs einfach als Ausfluss eines Glaubensakts begreifen lässt (von der Sinnhaftigkeit eines solchen Versuchs ganz zu schweigen), wie ich auch davon überzeugt bin, dass etwa Thomas von Kempen, Teresa von Avila oder Johannes vom Kreuz wenig Verständnis hätten für das, was wir hier Glauben nennen oder es, könnten wi Ihnen das Konzept einigermaßen verständlich machen, zumindest für reichlich primitiv hielten.
@ANH
Da man Tagebuch-Einträge nicht kommentieren kann, sei mir hier eine Anmerkung zu Folgendem gestattet:
„nichts Schlimmres als diese buddhistische Art, ein Nichts anzustreben, ein Ausgeglichensein der Kräfte, dieses aufNichtsmehrsichFreuen und dieLustkleinhalten, damit auch der Schmerz klein bleibt.“
Ganz recht, nichts Schlimmeres, A B E R: Nichts davon ist buddhistisch. Wieder einmal (wie schon letzten Samstag) eine Fehleinschätzung asiatischer Traditionen.
@ferromonte „kunst“ aus leichen … macht mein schüler Gunter von Hagens …
allerdings fleddert und kopiert er dabei zu offensichtlich und überdies schlecht die kunst der moderne.
seine „kunst“ hat mit kunst soviel gemein wie
die kunst in „kunststoff“, „kunsthonig“, „kunstrasen“, „kunststopfen“ …
und die kultur in „kulturbeutel“
herr padre, sie drehen einem ja auch die worte im mund um, was solls. nehmen sie halt nicht alles wörtlich, so wie sies grad brauchen, um sich selbst als intellellen darzustellen. klar kann man bach überall spielen, darum gehts doch nicht. es geht um den geist, der zum leben erweckt werden muß durch die darstellung. aber auch geist ist nichts wirkliches, nichts nachweisbares … mensch, mit ein wenig gutem willen ist schon zu verstehen, was ich gemeint habe.
und die tiere, sind nicht so verschieden von uns wie sie meinen. sie sind unsere fratelli und sorelles. hier waren sie nur als metapher gedacht.
schönen tag und we noch, und gruß an die sorelles … 🙂
Pardon, padre. Aber über den Buddhismus – oder Spielarten, „der“ Buddhismus ist sicher falsch – hab ich mal gearbeitet und weiß s c h o n, wovon ich spreche.
Zu allem anderen später, da mein kleiner Junge einen Film sehen möchte und damit den Laptop blockieren wird. Ich hab’s ihm versprochen, deshalb kann ich nicht eingehend argumentieren.
“Das meiste Unglück, sagte er, liegt an der mangelnden Gottlosigkeit. Die Menschen haben, Schneiderer, nicht den Schneid, sich alleine fühlen zu können, sie müssen so tun, als wär da immer jemand, der aufpaßt. Deshalb, Schneiderer, lieben die Leute das Trübe, da sehen sie nicht, daß niemand da ist. Da glauben sie, das Trübe sei eine Gegenwart, eine Gegenwart Gottes, wie überhaupt das Trübe, Schneiderer, das eigentliche Element des menschlichen Geistes ist, um nicht zu sagen, des österreichischen Geistes, wenn sich österreichischer Geist denn so sagen läßt. Schlimmer ist es mit dem deutschen, dem deutschen Geist, Schneiderer, schlimmer ist natürlich die Gottlosigkeit, wo sie so tut, als hätte sie keinen Gott, aber wenn Sie genau hinhören, ist dort erst recht keine Gottlosigkeit und erst recht alles trüb, um nicht von den Schweizern, Schneiderer, reden zu müssen.“ (Bernh. Thomasius, „Blutungen“)
„schlimmer ist natürlich die Gottlosigkeit, wo sie so tut, als hätte sie keinen Gott“ habt ihr nicht den tollen menschen gesehen?
gottlosigkeit, die so tut als ob… „koofmich!“