Mittwoch, der 11. Januar 2006. Innsbruck.

9.47 Uhr:
[Sibelius, Erste Sinfonie im verschneiten Innsbruck zwischen den Bergen.]
Spät wurde es wiederum, mit den enorm gastfreundliche Giacomuzzis und ihren Freunden; lange sprachen wir über das Netz, übers Weblog, über ästhetische Implikationen; auch darüber, was es bedeutet, sich so weitgehend der Öffenlichkeit zu zeigen, wie ich das hier unternehme – wobei eben eine vorgeblich exhibitionistische Seiten keinen (mich ja auch nicht) interessiert, sondern vielmehr die Fragen der neuen Wirklichkeitskonstitution usw. Dazu kleinere Einsprengsel bzgl. Nord- und Südtirols, das nach wie vor von deutschtümelnder Nationalbegeisterung geschüttelt zu sein scheint. Mein Großvater väterlicherseits – er ist in Deutschland seinerzeit durch die Entnazifizierung gerutscht – lebte dort; jedenfalls erzählte man es mir. Er habe ‚für die Freiheit Südtirols“ gekämpft und in einem Alkoven einen Altar gehabt und darauf ein HitlerBild aufgestellt (je links und rechts wahrscheinlich eine Kerze, stell ich mir vor). Persönlich sah ich den Mann nie, jedenfalls hab ich keinerlei Erinnerung an ihn.
Der Vortrag in der Uni war prima, wenn man davon absieht, daß ich die Studenten wahrscheinlich ein wenig überfahre habe. „Ach das sind sie von m i r schon gewohnt“, sagte Renate Giacomuzzi nachher, „daß man sofort in die Vollen geht.“ Dennoch, eine Art abgehängter Entfernung, die nicht Skepsis ist, waltet vor: Ich hab den Eindruck, die Sätze lange rein akustisch nicht bei den Ohren an. Entsprechend zurückhaltend die Fragen, zweidrei Leute melden sich, und dann interessiert eben auch „Was kriegen Sie denn dafür?“ Mein „Nichts“ wäre zu hart, um es auszusprechen; nicht-ökonomisch ist es ja auch nicht wahr.
Viel viel viel getrunken also und hervorragend bei Giacomuzzis gegessen, dann in der Gästewohnung, die riesig ist, ins Bett gefallen und erst um halb zehn mit dräuendem Kopf erwacht. Hab mir ein Brot geschmiert, selbstgekochte Marmelade steht hier, der Espresse wird schwarz getrunkten, bei der ersten Tasse nahm ich versehentlich statt Zucker Salz.
Um zwölf treff ich mich mit Heisl im Cafè Central, vorher müssen wir den Japan-Abend vorbereiten, und ich will noch ins Netz; zwar gibt es hier im Haus mehrere Wlan-Sender, aber leider von Mac, also werden sie von meiner „Dose“ (Michael S. für „MS Dos“) nicht erkannt. Wiederum haben Giacomuzzis Computer eine auch-japanische Tastatur, die völlig anders belegt ist als meine, was dann wieder zu Wortsalaten führt, vor allem, wenn ich hier Links einbauen will.
Ach ja, und ich rauche mal wieder; das war imgrune vorauszusehen nach vorgestern nacht. Ich werd das jetzt noch bis morgen abend so weitertreiben, da ja auch A. in Bamberg wieder wollen wird, daß ich’s tu – und auf der Rückfahrt nach Berlin am Freitag morgen werd ich mir einen SchnellEntzug antun.
Ob ich wohl mal wieder zum Arbeiten komme (also außerhalb aller Überlegungen zu Netzfrauen und Netzliteraten)?

11.05 Uhr:
Ich hoer gerade, dass ich gar kein Narziss b i n; sondern die Abloeseform des konventionellen Narzissmus, der sich wegen des Internets ueberlebt habe wie das Krankheitsbild der Hysterie, heisse H i s t r i a s. Ich bin also ein Histriastiker, woran mir die Trias ganz besonders sympathisch ist. —– Aehm, ich hoer gerade von Magdalena Kauz, die hier anrief und der sich meine Kenntnisnahme dieses Aspektes meiner sagen wir kybernetischen Characterologie ver,naja,dankt: ich sei kein Histriastiker, sondern ein – H i s t r i o, Betonung auf o wie bei Hallodri, nur eben hinten.

17.24 Uhr:
Welch wundervoller Aufenthalt und welch eine Gast- und sowieso Freundschaft! Mittags mit Peter Giacomuzzi an Trakls Grab gewesen; als ich hörte, er liege hier, mußte ich sofort hin. Danach das Treffen mit Heinz D. Heisl im Café Central; ein schönes, inniges, nahezu vertrautes Gespräch, bei dem völlig fehlte, was einem sonst im Literaturbetrieb entgegenkommt: Mißachtung, verachtende Zurückhaltung, Häme, Verschlossenheit. Sondern offen alles von Anfang an und ohne auch nur die Spur von ideologischem oder poetischem Vorbehalt. Er gab mir das Typoyskript seines Romanes VOM GEFÜHL eine Grobheit mit, ich las ein wenig hinein, es zog sofort. Also werde ich morgen auf der Fahrt nach Bamberg ARGO noch einmal ruhen lassen und diesen Roman lesen. Im Gegenzug empfahl ich ihm Helmut Krausser, den er nie gelesen hatte; auf dem Weg zum Bahnhof, wo ich mein Rückfahrt-Tickett kaufen wollte, in drei Buchhandlungen hineingeschaut; ich hatte das Bedürfnis, Heisl Kraussers MELODIEN zu schenken oder THANATOS oder etwas andere in d e r Art, auch FETTE WELT wäre prima gewesen; es war leider nichts davon da. Jetzt sitze ich bei Giacomuzzis wieder, Peter G. holt soeben Claudia Gehrke, die Leiterin des Konkursbuchverlages, vom Bahnhof ab – auf diese Begegnung bin ich eh gespannt.
Grünen Tee nun, dabei Die Dschungel führen, danach wird’s zur Veranstaltung gehen und nach der Veranstaltung ein japanisches Essen geben. Lange nicht mehr habe ich mich so wohl gefühlt, wie seit ich vorgestern in Bamberg war und nun in Innsbruck noch bin. Weit weit weg die Bedrohung durch Mahnungen und Zahlungsbefehle und gesperrte Konten, alles hat eine, ich will es s o sagen, offene Luft. Und ein Aphorismus fiel mir noch ein, boshaft genug, aber noch nicht zugespitzt formuliert. Daran werd ich morgen im Zug etwas feilen. (Und wie unvoreingenommen Die Dschungel hier gelesen und nochmals gelesen werden!)

0.45 Uhr:

Heinz D. Heisl: „Ich ess doch keine Kinder!“