Montag, der 16. Januar 2006.

5.25 Uhr:
Stille. Der Kühlschrank aber raunt. Es ist jetzt d o c h sehr kalt in der ungeheizten Arbeitswohnung. Als ich schlafen ging so erschöpft, fror ich bis auf die Knochen. Ich mußte sogar eine zweite Decke über mich ziehen, weil auch das Einschlafen fror. Neben mir, jetzt, der latte macchiato, im Kopf die Stimme des Profis, der mir gestern nacht noch riet, „laß dich auf dieses Spiel nicht e i n“. Und Frau von Meck, die ganz andere Vorschläge machte, um Verständnis warb: „Sie möchte eine ganz n e u e Form der Näherung haben, als s i e genommen werden, sie ohne Körper, sie als Geist und einfach als Mensch“, geliebt werden, um es s o auszudrücken, ohne Begehren. Ich verstehe das s c h o n, aber ich bin kein Mönch und will auch gar keiner sein: Es wäre überdies ein Verrat an meinem Werk, das den Körper in den Mittelpunkt rückt, weil sich nur so die Einheit von Körper und Geist wiederherstellen läßt, die von Monotheismus und Kapital zuungunsten jener beiden und zugunsten dieser beiden auseinandergerissen worden ist. Einem entsprechenden Wunsch nachzugeben hieße, einen ebensolchen Strich durch mein ganzes Werk zu machen, wie auch das Verbot des Wellenbuches einen Strich durch eines meiner Werke gemacht hat oder das zu machen versucht; es ist doch völlig sinnlos, einen Text verbieten zu lassen, verbieten läßt sich der Fetisch, also das Buch als Hardware, nicht aber als Gedanke: dieser und die Schönheiten seiner Konstruktion und Sprache, in welchen sich die Wahrheit kleidet, um als Kunst in Erscheinung zu treten – das k u r s i e r t und ist nicht aus der Welt zu schaffen. Das wird gelesen und weitergedacht, daran wird geträumt und mitgelitten, und eigenes Leid, das des Lesers, wird daran milder und geklärt.
Jetzt, mit drei Pullovern, wird mir langsam warm. Und die Gedanken wirbeln, „werde dir klar darüber, wer du b i s t“ (Ursula), suche Abstand, möchte ich denken und denke an Bamberg, denke ans Ausland, denke an ein Meer zwischen mir und dem allen. Die Geschichte des Vaters wiederholen, ich. Die Geschichte der Mutter wiederholen, sie. Die Geschichte des Kindes wiederholen, mein Junge. M u s t e r.

Ich wollte weiterschlafen, aber es trieb mich hoch um fünf. Denn es drängte sich zu alledem wieder die finanzielle Not in meinen Kopf, ich formulierte noch im Liegen bereits Briefe an Gläubiger, die Postbank, die American Express Bank, ich sah mich bei Hartz IV in den Gängen des Arbeitsamts sitzen – als br ä u c h t e ich Arbeit und hätte nicht mit ARGO und den anderen Texten Arbeit g e n u g. Eigentlich habe ich davon so viel, daß für Trauer gar kein Platz ist. Künstlerisches Schaffen hat dabei den Vorteil, jedenfalls eines, das auf Intensität gestellt ist, daß diese Arbeit keine verdrängende ist, sondern ganz im Gegenteil wird ihr die Trauer zum Thema. Wenn mir neulich >>>> eine Leserin in Die Dschungel hineinschrieb, eine zu intensive und zeitaufwendige Nabelschau sei zum Schaden des Kindes und der Verantwortung des Vaters /der Mutter nicht angemessen, so schwingt darin die Aufforderung mit, das Gegenteil zu tun und zu verdrängen. Die Verdrängung von Trauer und damit ihrer Ursachen ist aber ein Verfahren, das sowohl krankmacht (und das Verdrängte, wissen wir, kehrt w i e d e r: in anderer, unbegriffener Gestalt) als auch, unter anderem dadurch, zu großem weiteren Übel führt. Etwa wird das Verdrängte a l s Verdrängtes unbewußt auf die Kinder übertragen, in sie hineinerzogen und wirkt dann in ihnen weiter: So e n t s t e h e n familäre Handlungsmuster. Und so tragen die Kinder das unbearbeitete Verdrängte als Leid in sich weiter und in sich als weiter zu Verdrängendes aus. Sie bekommen die Leiden der Eltern als einen Schmerz ab, den s i e gar nicht bearbeiten k ö n n e n, weil sein Grund ja nicht in i h r e r Geschichte liegt; ihnen ist, je besser die Eltern verdrängten, dazu der Zugang verschlossen. N i c h t zu verdrängen, führt allerdings ebenfalls zu Übel, etwa zur Handlungslosigkeit und möglicherweise ins existentielle Desaster, unter dem dann ein Kind dann ebenfalls leidet. Es ist wie die Wahl zwischen Erschießen und Erhängen; der Künstler nun fragt: was eignet sich besser, um etwas Schönes daraus zu machen. Möglicherweise ist, daß wir schuldig werden, nicht zu umgehen.

10.16 Uhr:
War eben in der Schule, um meinem Jungen seinen Stoffhund zu bringen, der beim Schneider geblieben war übers Wochenende; Nähte waren nachzunähen, das Tierchen verlor schon von den Körnchen, mit denen es gefüllt ist. Ich also in die Klasse, und er fängt an zu strahlen vor Glück: „Mein Hundi!“ Er hat heute morgen ein völlig verweintes Gesicht: Folgen der Szene von gestern abend, die ich doch hatte vermeiden wollen. Vielleicht hat er auch so geweint, weil ihm zum Einschlafen das gerade nun so nötige Übergangs- und also Liebesobjekt gefehlt hat. Aber vielleicht, wiederum, täuschte mich der Eindruck und war das Ergebnis meiner Projektion. Wer kann das sagen? Und wer will erahnen, was dem Jungen geblieben ist sowieso von alledem Unheil? (Mein eigener Fünfjahresblock – daß ich mich an nichts erinnern kann von dem, was vor meinem fünften Lebesjahr lag – ist während der Analyse nahezu undurchdringbar gewesen; ich fühlte immer nur Spuren, die den Character von Ahnungen hatten.) – Ich muß Ihnen, denke ich, nicht eigens sagen, daß es s o l c h e Erlebnisse sind, die in Romanen und Erzählungen (in Filmen, in Bildern) zum Seelengrund ganzer Szenen werden.

Es ist eiskalt draußen; dagegen kommt mir die unbeheizte Arbeitswohnung geradezu mollig warm vor, ich hab sogar einen Pullover ausziehen müssen.

10.42 Uhr:
Mußte eben, bei aller Traurigkeit, auflachen. Zu ****** schreibt mir R.G.; „ja, das Palästina-Israel-Problem“. S o hab ich das wirklich noch nicht gesehen. Es hat etwas Schlagendes.

14.35 Uhr:
Hab meine Stunde zu schlafen versucht, es ist absolut nicht dran zu denken. Mir gehen sofort die Gedanken über. Eine Mischung aus Beklemmung und Innendruck. Also weiter ARGO korrigieren… nein, sondern zweidrei Briefe an die Gläubiger schreiben. Ich will eh zur Post, weil ich einer lieben Mäzenin (oder sagen wir reale Abonnentin, das trifft den Sachverhalt, da sie mir monatlich zehn Euro für Die Dschungel überweist) drei Hörstücke kopiert habe und diese schnell hinausschicken möchte. >>>> Die nämlich haben sich gemeldet:Die Energie, die Sie aufwenden, um uns auf den Fehler aufmerksam zu machen, bitte (!) wir nunmehr in einen geeigneten Rückzahlungsvorschlag zu investieren und zwar bis zum 20.01.2006.Die ABRAXAS Inkasso GmbH steht offenbar nicht nur mit den Jahreszahlen und mir, sondern auch mit Grammatik und Zeichensetzung auf Kriegsfuß. Allerdings läßt sich dieses ‚bitte wir‘ als ein unterdrückter pluralis maiestatis deuten.

17.22 Uhr:
Kurz vorm Aufbruch in >>>> die Oper: Jetzt hab ich für die Lesung im Auswärtigen Amt auch meine Begleiterin, wunderschön und mit Eleganz, Witz und Kultur. Dem Netz sei gedankt. ARGO bis TS 517 korrigiert. Nach der Oper dann noch Treffen mit dem Profi in der Bar.

Nachtrag: Auswärtiges Amt. Mal ganz beiseite in mich hineingesprochen:: daß ein Ribbentrop da wieder auftritt, aber diesmal als Literat, das hat etwas… ich realisiere das j e t z t erst… und weiß eigentlich nicht, w a s es hat. Ich kann’s nicht bezeichnen, aber es macht mir so eine Bauchgrimmen. Ein Unwohlsein. Hm.

1.46 Uhr:
Aus der Deutschen Oper und der Bar zurück. Ich weiß gar nicht, weshalb ich so gut gelaunt bin. Vielleicht liegt es an der Inszenierung Katharina Wagners, vor allem des ersten Stücks, Suor Angelica, das superb geraten ist – gerade bei diesem Ding, das ich immer für eine Schmonzette hielt. Aber mehr dazu morgen, ich werde drüber schreiben – zwar nicht fürs Opernnetz, weil da diesmal – auf seinen Wunsch – jemand anderes tätig wurde, aber doch auf jeden Fall für Die Dschungel. Welch eine durchdachte Inszenierung! Das will ich schriftlich belegen. Und besser sitzen als ich heute abend kann man wohl a u c h nicht: 6. Reihe Mitte. Dank an die Deutsche Oper, weiß Göttin. (Neben mir saß eine Dame, die war aufgrund einer Besprechung in der Süddeutschen heute eigens für die Aufführung von München herübergeflogen und wird morgen zurückfliegen. Man kann sagen, was man will: Ich bin enorm privilegiert. Auch dafür danke.)
In der Bar hernach noch den Profi getroffen, einen Cocktail genommen, geplaudert. Und dann mit dem Rad weiter durchs eisige Berlin. Es ist jedesmal erhebend, nachts durchs Brandenburger Tor zu radeln. Wie auch immer, ich wünsche Ihnen allen eine zauberhafte Nacht.