7.15 Uhr:
Eben erst hoch; also mein Arbeitsrhythmus ist wirklich aus der Spur… Die PAVONI erhitzt Wasser, ich rauche mit dickem Kopf eine Zigarette und denke: Erstaunlich, wie Ratz Felix auch am Körper immer dunkle Stellen bevorzugt, nämlich nie auf der Schulter oder offen sitzenbleibt, sondern sich immer irgendwo versteckt, ob im Ärmel, ob zwischen den beiden Pullovern, die ich anhab. Und ich merke, daß meine Aufmerksamkeit von etwas ganz anderem gebunden wird, weil mir ein Gespräch von gestern nacht noch so nachgeht. (REGIE: Die PAVONI zischt, den latte macchiato bereiten.)
Das war ein tiefes, auch leise verzweifeltes Gespräch gestern nach dem Billard im AN EINEM SONNTAG IM AUGUST. Ich hatte im Billardsalon auch meinen Schriftstellerkollegen M. getroffen, wir waren noch etwas trinken gefahren, daraus wurde viel trinken, denn unversehends begannen wir, von unseren Lieben zu sprechen und von den verlorenen Partnerschaften. M., in dessen Leben so viele Frauen eine Rolle spielen wie in dem meinen , meist ebenfalls sehr junge Frauen, und der sich nach einer Familie sehnt, aber keinen Kompromiß eingehen will, rang in unserem Gespräch um die Fähigkeit zum Kompromiß – was um so verzweifelter war, als er sich gerade aus Kompromißlosigkeit, so, schließlich, muß man das nennen, von seiner nunmehr letzten Gefährtin, die er dennoch liebt, getrennt hat. Er ist noch mit jemandem anderes verheiratet, so etwas ist gerade bei Festtagen für die Geliebte ein kaum aufzulösender Schmerz. „Und ich kam heim und sah ihr die Verletzung an, die ich ihr, zweifellos, zugefügt hatte.“ „Warum bist du nicht bei i h r geblieben?“ „Ich habe gelernt, daß mir die Achtung vor Frauen wichtiger ist als die Liebe zu ihnen“, antwortet er, „und ich achte meine Frau sehr.“ „Und dann?“ „Ich sah sie also an und sah, daß der Schmerz sie innerhalb einer Woche alt gemacht hatte. Ich saß einer alten Frau gegenüber und wußte überhaupt nicht, wohin mit meinem Schmerz. Der ja eigentlich ihrer war. Sofort fing ich zu trinken an.“ Er hatte in der Tat bereits die ganze Zeit einen ‚Zug’, den ich nicht an ihm kannte. „Seither trinke ich und denke ich. Und habe mich getrennt. Denn weißt du, ich wünsche mir Familie, aber ich werde mich nicht von meiner Frau trennen. Wenn Sabine“, das ist seine Geliebte, „mit mir nicht mehr zusammen ist, dann hat sie noch eine gute Chance, ihre Familie zu finden. M i t mir hat sie die nicht, und irgendwann ist es zu spät.“
Wir sitzen nebeneinander auf einer Couch mit Blick zum Tresen, schon das eine eigenwillige Situation, anders als sonst bei Gesprächen; meist sitzt man einander gegenüber oder über Eck. So aber stellte sich die Intimität gerade durchs Beiseitesprechen ein und dadurch, daß sich unsere Arme fast dauernd berührten.
„Ich habe diesen Blick“, sagt er, „ich habe diesen grausamen Blick. Ich kann nicht von dem absehen, was ich sah. Kann von der alten Frau nicht absehen. Deshalb mußte ich gehen.“ Wir bestellen Bier nach, er fragt nach mir, nach meinen Gefühlen Nöten, ich erzähle. Er sagt: „Eine Frau, die mit dir zusammen als Familie alt werden möchte, aber zugleich die körperliche Berührung nicht mehr will, die sagt: Gib mir meine verlorene Kindheit zurück. Sie will ein Opfer als Zeichen einer heilen Liebe, einer solchen, die rein ist.“ Die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug, denke ich, wieder einmal frappiert von Wagners Klugheit, der so viel Miesheit parallelging. „Das kann ich nicht geben“, sage ich, „das bin ich nicht, es würde fürchterlich.“ Und dann sprechen wir über den Mißbrauch kleiner oder doch junger Mädchen und darüber, was er in ihnen lebenslang auslöst und wie die Folgen auf jeden späteren Mann übertragen werden. M. hat darüber geschrieben, es treibt ihn um, er hatte v o r Sabine eine intensive, langjährige Liebesgeschichte mit einer in ihrer Jugend mißbrauchten Frau. „Ich wurde in die Rolle des Mißbrauchers gedrängt, ich wollte sie nicht, k o n n t e sie gar nicht ausfüllen, das ist nicht meine Sexualität, ich bin anders als du“, womit er meine BDSM-Erfahrungen meinte und sich auch auf die Überlegungen bezog, die ich im Rahmen der kleinen Perversionsthorie angestellt habe, von der Sie in Den Dschungeln immer wieder lesen können. „Ich empfinde keine Lust, wenn ich demütige oder gar Schmerz im Liebesakt zufüge, auch nicht, wenn die Frau das will. Es entsetzt mich. Ich fühle dann nichts mehr, schon gar nichts Erregendes. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, naiv, ich kam in die Stadt, ich komme mit all dem Schiefen nicht klar. Denn das Perfide ist doch: Solche Frauen lieben und hassen zugleich. Sie machen dich zu einem Wiederholungstäter, sie wollen, daß du den Mißbrauch wiederholst, immer wieder wiederholst, – tut das aber jemand, wird ihm eines Tages – und auch zugleich – genau das zum Vorwurf gemacht. Und mit Recht. Es ist ein Teufelskreis. Man kann ihn nicht auflösen, auch nicht durch Verständnis, man kann nur gehen. Oder man läßt sich auf Bedingungen ein, wie sie dir gestellt worden sind. Man leistet ein Opfer.“ Die Schuld der Menschheit auf sich nehmen, denke ich, sie entschulden durchs Selbstopfer. Der Nazarener, denke ich. Die Schuld eines anderen Mannes auf sich nehmen und sie durch Verzicht entsühnen. An Stelle des anderen Mannes: eines mißbräuchlichen Klavierlehrers meinethalben, eines mißbräuchlichen Kunstlehrers, eines mißbräuchlichen Nachhilfelehrers, vielleicht sogar, furchtbarster Weise, eines mißbräuchlichen Vaters. Da dreht sich M. mir zu und sagt: „Du mußt wissen, was du willst. Ob du eine Frau wirklich liebst oder ob das, was du in ihr siehst, sehen willst. W e n n man sie liebt, dann b r i n g t man das Opfer. Und h a t diese Familie. Denn irgendwann wird die Frau zu dir kommen, schon weil sie ein Kind möchte, und wird sich zu dir legen.“
Vielleicht hat M. recht. Aber w ä r e ich das: einer, dem es auf Familie ankommt, auf Wärme, Geborgenheit, auf ein ‚kleines Zuhause’, beruhigt in dieser Form von privater und heilender Bürgerlichkeit, die ich, ich gebe zu, ja ebenfalls ersehne? Und wieder Ursula: „Werde dir darüber klar, wer du bist!“ Ich ersehne diese Bürgerlichkeit, ich trage die Wunde der Trennung meiner Eltern, sie näßt bis heute, manchmal blutet sie auch, aber zugleich will ich diese zuhausige Beruhigung nicht, ich mißtraue ihr, lehne sie sogar ab. Ich fühl mich wie der Steppenwolf. Erwachsen zu sein, schrieb ich in ARGO, bedeute, in der Ambivalenz zu leben, es in ihr auszuhalten. Ich füge hinzu: um unserer selbst willen sollte es die Bedeutung erringen, daran Lust zu empfinden, aus ihr Lust zu gewinnen. Abermals dieser Kunstgedanke der Katharsis, der ja an sich schon eine perverse Dynamik beinhaltet, der sie auch i s t. Das nun paßt überhaupt nicht zu einem beruhigten Zuhause, ich passe nicht, denke ich neben M. im AN EINEM SONNTAG IM AUGUST und trinke von dem nächsten Bier. (Käme ich ohne den ständigen Kampf denn noch aus? Verzichtete ich darauf, auf Vulkane zu steigen, während sie ausbrechen? Wollte ich n i c h t mehr auf heikle Kleinexpeditionen in die Dschungel oder spazierte durch Slums in der Gefährdung, ganz zu recht überfallen zu werden? Stellte ich mich n i c h t mehr in die Öffentlichkeit? Ginge ich n i c h t mehr auf Podien und stritte? Deckte ich über meine Arbeiten das erich-friedsche Tuch gütiger Milde?)
Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong,
hab ich Sehnsucht nach der Ferne –
Aber dann in weiter Ferne,
hab ich Sehnsucht nach zu Haus.Freddy Quinn
Ein Schlager aus meiner Kindheit, ich sang ihn damals sehr oft. Was mir für Erinnerungen kommen!
Ich will einen Namen für meinen schönen Blinddate finden, für die Frau also, die ich nach der Lesung im Auswärtigen Amt heute abend treffen werde. Sie war eben für einen Morgengruß im Messenger, ich fragte sie, sie sagte: „Darüber hatte ich schon nachgedacht. Ich denke, Sie sollten ihn wählen. Sie sind der Autor. *g* Und sammeln Ihre Eindrücke. Nennen sie mich so, wie sie denken, dass es passt.“ Ich werde das „wahr“ erst tun können, wenn ich sie sah. Seit langem interessiert mich an einer Frau wieder ihre Stimme, ich möchte ganz dringend ihre Stimme hören, sie ist mir fast wichtiger als das Gesicht. Seltsam.
Draußen liegt Schnee, und es schneit immer weiter, und bei dem ‚Schnee‘ stimmt das ‚S-c-h‘ sogar optisch.
10.12 Uhr:
Die Download-Zahlen der >>>> als pdf’s in die fiktionäre Website gestellten Texte explodieren gerade, ich weiß gar nicht, was los ist. Soeben 13.443 seit Ende September 2004, das macht nahezu tausend pro Monat. Unfaßbar irgendwie – und g u t dieses Gefühl, gelesen zu werden, und zwar ohne Die Dschungel mitzurechnen.
15.50 Uhr:
Vom Essen im Auswärtigen Amt zurück. Sehr freundliche, höfliche Menschen mit viel Interesse. Allerdings nahmen sie meinen Vorschlag, in die Vorhalle des repräsentativ-wuchtigen Aufgangs zum alten Gebäude dort, wo vormals der Reichsadler hing, Andy Warhols Mao-Gemälde aufzuhängen, eher indigniert zur Kenntnis. „Das wäre doch Subersion“, sagte Referatsleiter S., „das käme einer Palastrevolution gleich.“ Nun gibt es zwar in dem Gebäude eine Halle des Volkes, der Palast desselben allerdings steht paar hundert Meter woanders.
Nun Pause bis zur Lesung um 18.30. Ich bin entgegen meinem eigentlichen Vorhaben doch noch mal in die Arbeitswohnung gefahren, um eine Stunde zu schlafen und eine dringende Überweisung zu tätigen. Viel mit der Arbeit wird das heute nicht, zumal ich unentwegt über die Mißbrauchs-Dynamik nachdenke und ständig dazu Notate verfasse.
0.36 Uhr:
Die Lesung war okay. Danach ein s c h ö n e s Treffen. Sagen wir („wir“!) es so: bezaubernd distanziert, aber nah. Eine masochistische kluge Frau, die alle Fäden in der Hand hält, beeindruckend autonom. Sozusagen leitet sie das ‚Tu mir weh’. Wobei ich aufpassen muß, was ich schreibe, weil sie das hier lesen wird. (Deshalb zur Seite gesprochen, nämlich für sie: Den angekündigten nom de plume ‚verpaß’ ich Ihnen erst, wenn es mehr werden sollte. Soviel zu Ihrer, junge Frau, pfiffigen Frage: „Wie nennen Sie mich nun?“) Unterm Strich war das Gespräch und der klitzekleine Kampf (es ging um einen Knopf), die ich beide mit ihr führte, erheblich wichtiger, als das Geplänkel im Internationalen Club des Auswärtigen Amtes.
Ich guck noch, was war in Den Dschungeln, dann geh ich schlafen.