7.50 Uhr:
[Der Brenner der GasetagenHeizung rauscht. Und mit einem Klacken setzt er aus. Periodisch, keine Sorge, liebe Leser: In der Kinderwohnung ist es, der Kinder wegen, warm.]
Die Zeiten sind Zwischenzeiten; es ist nahezu immer so, wenn ich eine Arbeit abgeschlossen habe oder den großen Teil einer Arbeit wie nun ARGO III, bevor ich also an ARGO IV gehen werde. Das ist bei einem Hörstück, das ich schrieb, ganz genau so, bei einer Erzählung und so fort. Es kostet eine eigene Art von Überwindung, an etwas Nächstes zu gehen… – ah, Moment, es trappelt aus dem Kinderzimmer, ANHs Junge kommt herab. Der will ihn eben begrüßen… Nein, der kleine Junge geht still auf die Toilette, die Badezimmertür öffnet sich, schließt sich, das hat sich der Junge so angewöhnt seit ein paar Wochen, daß er zuerst leise für sich, wie ANH gestern bei TWIN PEAKS hörte, ‚der Natur folgt’, wenn er seinen Papa in der Küche am Laptop sieht, dann wieder in sein Zimmer geht, sich vielleicht sogar erst einmal ankleidet und etwas spielt… erst dann ist er bereit, „Guten Morgen“ zu sagen… – Kommt seine Mama in ihm durch, die morgens immer lieber allein ist, nicht tatsächlich allein, nein, aber allein mit den Gedanken? Der Papa ist schrecklich in dieser Hinsicht und kann morgens beim Aufwachen sofort singen, es stört ihn morgens nicht einmal Lärm. – … ‚an etwas nächstes zu gehen’, schrieb ich und von der Überwindung, die das kostet. Nicht, weil ich nicht wollte, ganz im Gegenteil, sondern als wäre mit dem Abgeschlossenen ein Grad der Erschöpfung erreicht, eine Leere, die sich mit Energie erst einmal wieder anfüllen muß. Mitunter ist das von leisen Depressionen begleitet, manchmal, wenn ich mich wehre und mit Willen dagegen vorgehe, sogar von so etwas wie einer Folge krampfanfallsähnlicher Wut, weil man sich so impotent vorkommt: als würde nie wieder etwas verfaßt werden können, als wäre die poetische Energie für alle Zeiten dahin. Es ist eine Art Schreibblockade, die sich ungut mit den ökonomischen Sorgen mischt und dann erst recht lähmt – aber wenn ich am Ende eines Jahres schaue, dann sind mein ganzes Gezeter, ich brächte nichts mehr zuwege, sind mein Selbstzweifel und die Verzweiflung, als welche sich diese periodischen Lähmungen äußern, beinahe lächerlich: denn bislang noch immer stand unterm Strich eine enorme Masse von Arbeiten da, und die depressiven Anfälle wegen der besagten poetischen Unfähigkeit hatten bloß die Perspektive verloren. Sie scheinen offenbar dazuzugehören; hängt man aber drin, fehlt diese Übersicht.
So auch jetzt, da mir der Arbeitsrhythmus mal wieder verloren ist, ich nicht früh genug aus dem Bett komme, vor mich hin sinniere usw. Es ist deshalb sehr hilfreich, manchmal frappierend und oft nicht ohne Komik, in meinen verschiedenen Tagebüchern der vergangenen Jahrzehnte zu lesen (früher führte ich sie – in Heften und Manuskriptbüchern, manchmal sogar in meinem Handkalender – periodisch; regelmäßig erst, seit es Die Dschungel gibt); die Klagen, nicht schreiben zu können, wiederholen sich geradezu stanzenartig, die Klagen über den Finanzmangel und über die Raucherei – aufhören, wieder anfangen, aufhören, wieder anfangen – auch. Und immer, wirklich immer, schlägt das urplötzlich um, und die Schreibphase beginnt: kaum je mehr dann als fünf Stunden Schlaf täglich, ganze Registraturen, in denen ich minutiös die Zeiten aufzeichne, zu denen – und was dann und wieviel – ich jeweils geschrieben habe,die Manuskripte, Hefte und seit zehn Jahren die Dateien füllen sich mit Notizen, Skizzen, ganzen Szenenfolgen usw.; meist ist das von Lieben oder Affären begleitet, über die sich nämlich ebenfalls Notate finden. Bei einigen Frauen muß ich nachdenken, Wer war das noch mal?, und ich bekomme nicht einmal mehr die Gesichter zusammen, bei anderen steht der Name sofort da und lächelt mich an. Einige wenige sind selbstverständlich geblieben, als meine Frau oder, auch das gibt es, meine m ö g l i c h e Frau, wobei ‚möglich’ bedeutet, daß sie es nie wurde; aber es ist eine Wahrheit an ihr: nämlich w e n n, dann wäre sie’s gewesen. Es mag klug gewesen sein von ihr, sich letztlich distanziert gehalten zu haben. Meine ganz frühen Tagebücher, aus den Jahren nach 1968, da war ich dreizehn, sind voller „ach Christines!“ zum Beispiel, das wiederholt sich ein Jahr lang darin gebetsmühlenartig und ist der durchlaufende Baß, über den die Variationen meiner ersten Erzählungen dieser jugendlichen, fast noch kindlichen Passacaglia laufen. W i e wichtig das ist, mögen Sie aus dem Umstand ersehen, daß die Kark-Jonas-Erzählung, die 24 Jahre später als Gangolf-Erzählung in den WOLPERTINGER einging, damals, ungefähr 1969, vielleicht auch 1970 in einer ersten Fassung entstand – noch völlig unsicher, selbstverständlich, auch peinlich mitunter in den Formulierungen und so wie damals ganz sicher nicht brauchbar, aber doch letztlich schon d a. Der Ruf nach der Frau begleitet mein Werk offensichtlich seit frühester Pubertät, das hat sich nie geändert, er kommt mir jetzt wie der Brennstoff vor, der den Motor meiner Schöpfungskraft gespeist hat und immer noch speist; ein bißchen tragisch ist das, wenn man erfüllt liebt und dennoch weiterruft: wie soll die Partnerin mit so etwas umgehen? Das muß sie doch kränken…
Es war ein wiederneuer TWIN-PEAKS-Abend gestern, er reicht bis in die Nacht; wir konnten uns beide nicht lösen, weder Katanga noch ich, schließlich sackte mir das Kinn auf die Brust. Ich will über David Lynchs, finde ich, meisterhafte Arbeit aber mehr erst schreiben, wenn ich alles, so weit es erhältlich ist, gesehen habe. Bezeichnend allerdings, daß mir so viele Kopien der am Markt nicht erhältlichen Staffel ausgerechnet da zugespielt werden, als mir die PARAMOUNT aufgrund eines Briefes tatsächlich persönlich antwortet, den ich infolge >>>> dieser Initiative an sie schrieb:
Sehr geehrter Herr Herbst,
geplant ist eine Veröffentlichung für die 2. Jahreshälfte 06, aber ganz sicher ist das noch nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Customer Service, Paramount Home EntertainmentNun ist das rein unnötig geworden, da ich die aus dem Fernsehen mitgeschnittenen Folgen privat bekomme, allerdings nur bis zur Nummer 25, danach war die Serie in Deutschland offenbar eingestellt worden*); nicht aber anderswo: es gibt spanische und französische Kopien über die 25 hinaus, auch ein paar englischsprachige noch; bei der ästhetischen Struktur dieses Filmunternehmens bin ich mir allerdings nicht sicher, ob ich ihnen werde folgen können. Möglicherweise ist aber gerade das der Reiz… (In den anderen Ländern sind die späten Folgen witzigerweise in ganz unterschiedlicher Reihenfolge ausgestrahlt worden – etwas, das vieles über Kraft und Eigenart von TWIN PEAKS aussagt.)
[*): Katanga hat recherchiert. TWIN PEAKS wurde als erste Staffel im Abendprogramm ausgestrahlt, dann, als zweite Staffel, im Spätabendprogramm und schließlich, weil offenbar die Quote in den Keller gesackt war, nachts um drei Uhr. Irgendwann versickerten die Folgen, versickerte damit das Geschehen: wie Wasser in Sand im Sand der Geschichte. Vergessenheit. Nun kommt es als Quelle in einer Berliner Küche, Schönhauser Allee/Ecke Bornholmer Straße, wieder aus einem Laptop heraus und wird zum Fluß und, ich bin mir sicher, einem bleibenden, dunkel lockenden See im Gehirn.]
Jungs&Väter-WG, Frühstück.