Sonntag, der 22. Januar 2006.

8.33 Uhr.
[Klaviermusik von Rachmaninov im DänennetzRadio.]
Jetzt wird’s mit der Verschlaferei aber happig. Nachdem der Junge schlief, hab ich gestern abend bis in die Nacht ein sehr sehr langes Gespräch im Yahoo Messenger geführt: über Netzfrauen, über die Dynamiken, die bei einst mißbrauchten Frauen wirken und auf alle späteren Partner ausstrahlen, wovon nun ja auch ich einiges abbekommen habe; des weiteren über Adorno und Baudrillard (ja, so etwas gibt es, so etwas ist möglich, ebenso wie sich Gedichte da lektorieren lassen), über die Schönheiten der Sprachen von Denkern und wie sie einen bisweilen über den Gedanken so hinwegführen, weil man nur die Sprache fühlt, „ich schwimme darin“, sagt meine Gesprächspartnerin sinngemäß, „und muß dann manchmal zurückschwimmen, um zu erfassen, was ich da eigentlich las“. Welche Funktion diese ‚schöne’ und welche die ‚häßliche’, sperrige bei Heidegger etwa, aber auch bei Kant und Hegel hat. Über ‚Spiel’formen der Sexualität und ihre Ursachen, Wirkungsweisen, Zwänge; auch über uns selbst und die Positionen die Verhängnisse, die wir darin einnehmen. Usw.
Katanga, der mit seinem Sohn eingeladen war, kam erst gegen Mitternacht heim, und wir konnten nicht anders, als noch anderthalb weitere >>>> Folgen TWIN PEAKS zu sehen. Aber mir verschwamm alles vor den Augen, so richtig habe ich das gar nicht mehr mitbekommen und werde es mir noch einmal für mich selbst ansehen müssen. Ich hatte zuviel getrunken über den Abend, so sehr war ich von dem Messenger-Gespräch ergriffen. Ich führte es mit >>>> June, die mir eine gute Freundin geworden ist, eine Vertraute, möchte ich sagen; um so wichtiger für mich, weil das eine Frau ist, und zwar eine, die über die Frauenbewegung sehr geprägt ist. Sie wohnt so weit weg, daß die Gefahr des Begehrens rein faktisch gering ist, zugleich ist es aber auch ein unablässiger Flirt und ein sich-Aussprechen über Frauen und Männer und das fast tänzerische Bemühen, sich über die Geschlechtergrenzen hinweg und eben ü b e r sie und diese selbst einander verständlich zu machen.
Nun sitze ich in der ziemlich unaufgeräumten Küche, ich habe gestern abend nicht mehr abgewaschen, das schmutzige, eintrocknende Geschirr steht noch herum, der Kleine zieht sich nebenan noch mal die Klamotten von gestern an; wir werde nachher gemeinsam baden. Und heute abend – ich habe mich gerade entschlossen, den Jungen einfach mitzunehmen – >>>> die Premiere von Piazzollas María de Buneos Aires an der Komischen Oper Berlin. Ich soll und will für Opernnetz drüber schreiben. Das Stück ist, meiner Schallplattenaufnahme nach, nicht sehr lang, vielleicht anderthalb Stunden, das ist für den Jungen gut auszuhalten. (Ich gehe ungern abends aus, wenn mein Junge bei mir ist; es tut mir immer weh, wenn nicht ich ihn zu Bett bringe. Das sind oft die intensivsten Momente, wenn ich vorlese, und er schläft sozusagen auf meinen Händen ein.) Jedenfalls wird es seine erste Begegnung mit dem Tango werden. Hier wie überall gilt für Bildung das gleiche wie für Vitamin C: was der Körper (also der Geist) nicht verarbeiten kann, gibt er wieder her; w a s er aber aufnehmen kann, das behält er. Und das w i r k t. Und prägt.

Mein Blinddate von Mittwoch schickte ein gutes Absageschreiben an eines meiner elektronischen Postfächer:
Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, was ich ihnen schreiben möchte. Was ich sagen möchte. Was der Abend für mich brachte. Die Quintessenz für mich war, dass mir jemand unverblümt auf den Kopf zusagte, dass ich „benutze“. Das befürchtete ich in mir und das wusste ich insgeheim eigentlich auch schon. Aber in anderen Gesprächen wurde mir das nur so „durch die Blume“ gesagt… und dass das ja alles nicht so wild sei…*bla* Sie aber formulieren sehr klar. Das war wichtig für mich, zu hören.
Ich habe viel geredet an diesem Abend. Zu viel, was mir danach in der Bahn ein unbehagliches Gefühl bereitete. Ich legte mehr offen, als ich wollte. Ich wollte durch meine Offenheit keine falschen Eindrücke erwecken. Und ich merkte im Laufe des Abends, dass ich in diesem „Spiel“ keinen Namen bekommen werden würde.
Sie ist sehr schön selbstgegenwärtig und hat, sowieso, deshalb recht. Ich wäre wahrscheinlich weitergegangen, aus Gründen der Lust, nicht der Liebe; man hätte einzweimal miteinander gespielt, das wär es dann gewesen. Und wieder wäre gesagt worden: „Der Platz, den ich einnehmen möchte, ist bei dir nicht frei.“ Und sie wäre gegangen, weil sich meine Seele anderswo aufhielt. Ich habe ihr davon am Mittwoch abend auch erzählt, ich krieg das nicht hin, immer weniger hin, aus strategischen Gründen etwas und gerade das vorzuenthalten. Ob ich mich verlieben werde, weiß ich beim ersten Blick – und b i n dann schon verliebt. Falls nicht, entsteht das auch nicht mehr. Bei allen Frauen, die für mich wichtig wurden (sie bleiben es immer, das hört nie auf), war das so: Bei Do, bei ******, bei Alexandra, bei wenigen weiteren, die ich hier nicht nennen will. Sie sind in mir wie eine wärmende Grundierung allezeit erhalten.

Gut, Leser, ich schaff mal Ordnung im Raum.

10.25 Uhr:
Nun erwachte hier auch das Nebenzimmer. Im mittlerweile furztrocknen Weihnachsbaum kraxelt Ratz Felix herum, überglücklich. Draußen strahlende klirrende Kälte. Aber kaum Schnee, kein Rodeln deshalb ist möglich.

14.11 Uhr:
[Klavermusik im DänennetzRadio.]
Seit Ewigkeiten mal wieder Lust auf Krawatte gehabt. Lust auch darauf, ein Bild von mir aufzunehmen. Und dann das Erschrecken, wie alt ich geworden bin. Dennoch stelle ich’s ein. Ist halt so.ANH Wie alt ich geworden bin, liebe Freundin!
DD: ich kann nichts erkennen, zu winzig. sollten sie alt geworden sein, dann empfehle ich uns, ihnen und mir, es vampiren gleichzutun: frischfleisch. Sie sind ja schon lange auf dem trip, ich komm grad erst drauf. Jugend, schönheit und zukunft. Vergangenheit und narben haben wir selber.
ANH: Frischfleisch hab ich ohnedies, über meinen Jungen. Was das Bild anbelangt: draufklicken, dann wird es größer. Und bei Frauen, nun ja, das e r g i b t sich immer, ich suche es nicht. Alter ist mir imgrunde schnurzpiep, wenn es stimmt.
DD: Das ist eine lüge, die sie nur frauen ab 40 gegenüber benutzen.
ANH: Nö.
DD: Korrigiere mich wie folgt: frauen ab dreißig
ANH: Nönönönönö!

15.41 Uhr:
Die Jungens wollen nicht ins Planetarium, sondern mit den Lego-Raumschiffen spielen. No jo, wie >>>> eb sagt. So spreche und lese ich. Es ist, hab ich das Gefühl, >>>> enorm wichtig, sowohl privat (womit ich ‚persönlich‘ meine) wie insgesamt für diese Verhältnisse Verhängnisse. Dabei ist ‚Verhängnis’ etwas Wunderschönes, weil es so von außen kommt, in nahezu antikem, begeisternd heidnischem Sinn. Weil es ein gutes Bewußtsein ist, daß man Welt nicht projektiv macht, sondern sie sich in einen hinein- und durch einen hindurchsenkt.