Mittwoch, der 8. Februar 2006.

6.37 Uhr:
Abermals tief und lang geschlafen; den Wecker um 4.30 Uhr zwar gehört, aber der Traum zog. Es waren viele Träume, schwere Träume, gute Träume: Das meint sich, wenn gesagt wird Einer schläft a u s. Als würde etwas aus einem strömen.
Für andere Menschen wäre dieser Geburtstag vielleicht ein gedrückter Tag gewesen, über allem die Melancholie. Es war aber eben auch ein kampfreicher und ein arbeitsamer, und am Abend kam eine leise Erlösung über mich, als mein Junge anrief, als seine Mama ihn anriefen l i e ß, er ist ja noch zu klein, um allein die richtigen Tasten zu drücken. Und sie und ich sprachen a u c h, da wußte ich, nun ist es gut.
Aber B. J.: Erst postet sie bei http://FAZ.net auf hinterfotzigste Weise über mich, hinterträgt tief-Falsches; ich intervenierte, so etwas kann man unwidersprochen vor Tausenden Lesern nicht stehenlassen. Die FAZ nahm das Posting heraus; ich habe >>>> hier darüber geschrieben. Dann fand ich in Der Dschungel vielleicht das Mieseste, was sich denken läßt. Jemand kommentiert unter dem Pseudonym Die Verflossene und reibt sich vor Schadenfreude die Hände: 51? Ich Ärmster! Ich möge doch n o c h ein verbotenes Buch schreiben, damit ich auch im nächsten Jahr jemanden zu beweinen hätte. Ich löschte das kommentarlos. Und habe mich entschlossen, nunmehr nur noch registrierte Kommentatoren hier zuzulassen. Das tut mir leid, das stört auch die ästhetische Bewegung Der Dschungel, aber ich kann einfach nicht permanent anwesend sein und auf das nächste denunziatorische Unheil warten, um es dann rechtzeitig abzuwehren. Zumal ich jetzt noch das Netz-insgesamt im Auge behalten müßte; ich schreibe aber einen Roman, schreibe ein Hörstück, schreibe vieles andere mehr und gehe außerdem gerne noch mal zum Billard und sowieso in die Oper aus. Prompt finde ich abends in der >>>> Kritischen Ausgabe wiederum eine Denunziation B. J.’s, auf die ich dann meinerseits kommentierend reagierte. Die Redaktion der kleinen klugen kritischen Zeitung hat daraufhin B. J.’s Artikel ebenfalls gelöscht. Der Redakteur schrieb mich an: „Ich hoffe, Sie werden das Problem mit diesem Stalker bald los.“ Ja, hoff ich auch. Sinngemäß June dazu: „Sie sind gar nicht gemeint, sondern Stellverteter. Wie sie es über den wiederholenden Ersatz-Mißbraucher schrieben. Hier scheint mir ein früher psychischer Mißbrauch vorzuliegen, der auf Sie projeziert wird. Diese Person will sich rächen und Ihnen schaden. Seien Sie vorsichtig, tun Sie nichts unbedacht. Sammeln Sie so viele Beweise und Indizien wie möglich. Und dann gehen Sie den juristischen Weg. Solche Personen, wenn sie sehr intelligent sind, können raffiniert sein. Nachher stehen noch S i e als der üble Nachreder da, und die Person h a t ihre perverse, fehlgeleitete Rache.“ Ich hab zu solchem Unfug aber überhaupt keine Zeit. Egal jetzt.
Wieder ein latte macchiato, Ratz Felix tappt herum: leise klackende Schrittchen, seit fünf Minuten ist’s aber ruhig. Er hat sich ein Reiseplaid erkoren, seit zwei Wochen schon, darin verbringt er halb schlafend, halb nagend die Vormittage. Das Ding ist schon voller Löcher und nun, find ich, seines. Ich werd gleich an ARGO gehen, mir fiel gestern über den Tag eine nächste Szene ein, die mich selbst ergriffen sein ließ. So etwas gibt es manchmal: Man sieht es dann erstaunt an, gerührt an, erschrocken an: Es ist zwar von einem selbst geschrieben, aber doch wieder n i c h t. Und es fügt sich immer als völlig klare Wendung in den Roman, ein Geschehen kann gar nicht anders sein als so, aber man hat es die ganze Zeit vorher wirklich nicht gewußt. Man wird als der, der es schreibt, überrascht. Immer dann, wenn mir so etwas widerfährt, weiß ich: Ich habe den richtigen, habe einen erfüllenden Beruf. So antwortete ich einer Freundin, die mir abends zum Geburtstag mailte und mich aufforderte, ich solle doch endlich hinausgehen, in eine Bar etwa, denn die Wirklickeit sei draußen: „Wozu? Ich gehöre h i e r hin. Das ist mein Beruf, das habe ich mir ausgesucht. Hier tue ich, was ich aus dem Innersten vermag. Wieso sollte gerade meinen Geburtstag etwas anderes füllen? In meiner Arbeit bin ich bei mir.“ Sogar an den VERBEEN kam ich noch, stöberte in seinen Gedichten, suchte eines fürs Zitat heraus, montierte es ein.
Guten Morgen, liebe Leser.

12.30 Uhr:
ARGO gut vorangetrieben (inkl. einer Meditation über Dauer); den heutigen Newsletter geschrieben und herausgesandt (das Programm hat mal wieder gesponnen, also bekamen ihn einige viermal, tut mir leid); ein schönes Telefonat geführt, in einer Email den Vorschlag für eine Veranstaltungsreihe formuliert, wegen DAS WUNDER VON SAN MICHELE mit Produktions- und Besetzungsbüro des DeutschlandRadios telefoniert, dreivier andere Mails beantwortet, dabei fettige Krabbenchips in mich reingestopft (tu ich n o c h), und jetzt bin ich müde.
Gute Mittagsnacht, liebe Leser.
[P.S.: Musik mag ich derzeit nicht hören, weil immer noch der Verstärker defekt ist, der sich zur Verstärkung meiner Melancholie auch nicht selbsttätig repariert.]

15.25 Uhr:
Tief geschlafen. Wollte dann an VERBEEN, mußte aber noch zur Post, ein Päckchen abholen. Auf dem Rückweg im Tabakladen lese ich etwas, das mich verstört. Ich k o n n t e nicht gleich an den Text, mußte denken. Und habe das Ergebnis >>>> h i e r notiert.
Das Schreckensvollste daran ist, daß dies alles der Beginn eines neuen Weltkriegs sein könnte, auf beiden Seiten mit ungleichen Mitteln geführt: Dort wird niedergebombt, man wird, wie schon geschehen, den begrenzten atomaren Erstschlag erwägen, hier bei uns wird in den Straßen gekämpft. Wie seltsam und bedrückend, daß ich heute morgen das Ende von ARGO besann, das ein Ende Europas sein wird: der Rückfall in einen chaotischen Zustand.

21.11 Uhr:
Bis eben am VERBEEN gearbeitet, Gespräche transkribiert und umgeformt in eine zu montierende Form, die Struktur entworfen und bereits das Typoskript durchkonstruiert, außerdem dran geschrieben. Jetzt werd ich allmählich müde. Ratz Felix pest auf dem Schreibtisch rum, nachdem er versucht hat, die linke Bücherwand zu erklettern. Ist total aufgeregt, das Kerlchen. Nebenbei >>>> einen kleinen Kommentarwechsel zu U- und E-Künsten geführt, aber abgebrochen, weil ich, wenn ich die Sie-Form verwende, mich nicht einfach so duzen lasse… oder doch, schon, aber ich schweige dann halt wieder und ziehe mich zurück. Und eben noch einer Zeitung ein Portrait des Werkes von >>>> Wilhelm Muster angeboten. Jetzt mach ich noch ein bißchen hin und her, dann geh ich eine DVD holen. Um aufmerksam zu lesen, bin ich zu abgespannt. Aber vielleicht krieg ich fürs Typoskript noch ein paar Montage-Ideen zuwege.
Manchmal erinnert mich Verbeen an den alten Vostell, der mich – da war ich ganz ganz jung – ein paar Tage lang unter seine Fittiche genommen hatte. Allerdings, Vostell war weicher, zugänglicher, Verbeen haut ja immer gleich zu. Auch wenn seine Tochter in CBS ein völlig anderes Bild ihres Vaters zeichnet. Ich komm wohl doch nicht drumrum, einzwei Tage nach Zürich zu fliegen; Billigflug sei drin, hat mir der SWR beschieden. Unterkunft in Zürich krieg ich bei Freunden, die eh schon in Sachen Verbeen recherchieren. Vielleicht bekommt man eine Lesung aus der NIEDERTRACHT DER MUSIK dort hin, dann würde sich das insgesamt lohnen.
Mit Ricordi telefoniert, um irgendwie an Noten zu kommen. Die haben nichts mehr lieferbar, aber gucken im Archiv. Doch sehr nett waren sie nicht, wie ich so auf Italienisch geradebrecht habe. Norditalien halt, gehört mental eh zur Schweiz. In Baden Baden angerufen, Strobl-Stiftung, ob die noch Aufnahmen aus Donaueschingen haben. Ich kann auch mal RHPP fragen, fällt mir grad ein. >>>> Ernest Bour ist leider tot, noch gar nicht so lange, den hätt ich nun gern zu Verbeen interviewt. Ich muß irgendwie Nasrin Verbeens – das ist Verbeens Tochter – Chicagoer Telefonnummer rauskriegen; übers CSO vielleicht. Und >>>> Hediger, der mir ohnedies schon was übersetzt hat, könnte mal über die brasilianische Verwandtschaft seiner Frau rauszukriegen versuchen, ob da in Manaus noch was steht von der Editora Chagai Verbeen S.A.. Ich schreib ihm eben noch. Dann irgend eine DVD. Mir wär nach was Neuem mit der >>>> Belluci. Was treibt die eigentlich jetzt? (Auf die Jolie bin ich sauer; erstens wegen Brad Pitt und zweitens, weil sie in Berlin aufgetaucht ist, ohne sich zu melden. Selbst schuld, jetzt kriegt sie keinen Link.)

23.25 Uhr:
Film war spannend, „Red Eye“, erfüllte seinen Zweck; keinerlei Transzendenz. Möchte ich nie drehen, sowas, aber anschauen tu ich mir das bisweilen ganz gern. Läuft unter Dienstleistung, ist also geleistet von Dienern, nein: Domestiken, wie man sich früher die Schuhe putzen ließ und sich erfreute am nächsten Morgen am Glanz. Die Diener hingegen, die einem die Schuhe e i ntrugen, die waren einem sehr nah: für die hätt man sein Leben gegeben, hätte irgendjemand sie bedroht. So fein sind die Unterschiede. Aristokratisch gesprochen. Aber das kapieren nurmehr noch wenige. Gruß an Ishiguro zur Nacht. Der weiß, was ich meine. Übrigens: Sein The Unconsoled gehört zu den Errungenschaften der absoluten, der g r o ß e n Literatur. Auch das hat, jedenfalls in Deutschland, niemand begriffen. Oder kaum jemand. Ich werde nie vergessen, wie er mir sagte: „Ihr habt in Deutschland ein Problem. Zu kleiner Sprachraum. – Ich unterdessen“ – klar, nach dem Butler-Buch, auf das ich hier anspiele – „kann schreiben, was ich will. Ob sich das verkauft, ist mir auch sowas von egal.“ Ich verstand sein Argument gut. Er hat viel Freiheit. Ich hatte nicht die Spur von Neid. Es ist leider still geworden um ihn. So daß ich, bevor ich zu Bett gehe, sage: „Kazuo-san: Manchmal sind unsere Hindernisse unsere Chance.“ Rein aus dem Gedanken der Kunst gesprochen. Aber, liebe Leser, ihr zieht ja Ingo Schulze dem alten Nabokov vor und nehmt das U für ein E und vice versa. Tut’s nur und erbaut Euch an… wen meine ich? Nö, sag ich nicht. Und morgen – Leser – sowieso – mehr. Gut’s Nächtle.