Freitag, der 17. Februar 2006.

4.38 Uhr:
[Strauss, Die ägyptische Helena.]
Aus der pinkfarbnen Kapuzenjacke lugend, Kaffee läuft durch.
Man kann Lakshmi nicht entkommen. Unterdessen ist sie Künstlerin geworden. Ich war bei ihr zu Besuch, sie zeigte mir Bilder – eigenartige Arbeiten, die sich meist aus Tausenden farbiger Plättchen zusammensetzen, sehr puzzleartig, informell. Nun ist mir diese Art Malerei immer fremd geblieben, fast wesenhaft fremd. Aber ich liebe diese Frau. Lange schau ich mir die Bilder an, bin, das trifft es, interessiert. Unser Gespräch ist warmherzig, aber voller Distanz. Ich gehe. Treffe ein paar Tage später eine Freundin, bei der ich übernachte. Sie wohnt in einem völlig anderen Kiez, im zweiten Stock, ein sehr sehr großes Zimmer, Matratzen am Boden, ebenfalls ein Atelier. Wir sprechen über Lakshmi, die seit meinem letzten Besuch bei ihr zunehmend bekanntgeworden ist, es liegen Zeitungen herum, in denen über ihre Ausstellungen gesprochen wird. Ich bleibe über Nacht. Morgens hören wir Lärm vom Treppenhaus hereindringen. Viele Menschen, auch Gerumpel. Nebenan sei eine Matinee, erklärt mir die Freundin, die längst angekleidet ist, während ich noch auf der Matratze in den Decken liege und sie mir einen Pott Kaffee bringt. „Ich hab das aber nur gehört“, sagt sie. Mich beschleicht sofort ein nervöses Gefühl. „Sieh doch mal nach.“ Das tut sie, kommt zurück, schüttelt selbst irritiert den Kopf. „Lakshmi“, sagt sie nur. „Ich laß besser die Tür zu.“ Aber es klopft. Fremde Leute kommen herein, ich bleibe immer noch liegen. Die Leute wollen Lakshmis Bilder sehen. „Das ist nebenan“, sagt die Freundin. Da steht aber schon Lakshmi selbst in der Tür. Noch hat sie mich nicht gesehen. Dann ist der Raum plötzlich leer, nur ich liege noch da, und Lakshmi geht langsam in meine Richtung, den Blick auf die Wand gerichtet, die weggeglitten ist, sich geöffnet hat: auf eine weite Aussicht, auf ein Meer, denn Lakshmi tritt an die Reling, die von der rechten stehengebliebenen Wand bis zu meiner direkten Nebenwand quer zum Kopfstück der Matratze verläuft, auf der ich weiterhin liege. Lakshmi ist kaum erkennen, sie trägt einen Popeline-Mantel, eine Handtasche überm eingekickten Arm, die Schlaufen an den Oberkörper gedrückt. So steht sie da und sieht aufs Meer, über dem ein grauer Himmel so schwer hängt, als wollte es sogleich regnen. Ich sehe und sehe bang zu Lakshmi hin, die sich dann langsam zu mir wendet und mich im Bett der anderen Frau liegen sieht. Nun kommt sie an mich heran, ich stehe auf. „Ach Alban“, sagt sie. Und ich versuche erst gar nicht, etwas zu erklären, sondern umarme sie, bin voller trockener Tränen, es durchschüttelt mich, doch ich kann nicht weinen. „Ach Alban“, sagt sie wieder und verbleibt während der Umarmung in einer geradezu mütterlichen Distanz: mich tröstend, meinen Rücken tröstend, mit der einen streichelnden Hand und nicht erreichbar als Frau.
Davon wache ich auf, und es ist kurz vor vier, 3.58 Uhr, ich weiß das genau. Neben mir der Kleine, mit dem Rücken zu mir, ist an der Brust halb aufgedeckt. Ich decke ihn zu, dann kletter ich beklommen das Hochbett hinunter, geh auf die Toilette, kletter noch einmal aufs Hochbett hinauf und schlafe für die verbleibende halbe Stunde wieder ein. Als der Wecker klingelt, bin ich ziemlich zerschlagen. Aber mein Wille siegt, und jetzt setze ich, nach diesem hier und dem DTs, die ARGO-Arbeit fort.9.58 Uhr:
[Strauss, Die Liebe der Danaë.]
Arbeitswohnung. Das ARGO-Pensum gut geschafft: ‚einfach’, ohne jeden Aufhalt, weitererzählt. Jetzt sind drei Motivketten erzählerisch frei, da muß ich bloß Handlung erfinden. Zwei weitere sind noch wiederaufzunehmen und eine weitere ist, indem ich auch sie wiederaufnehme, als Thema abzuschließen. Hier wird es um Konstruktion gehen. Je klarer das alles bereits im Rohling ausgeführt wird, um so leichter wird die Formung zur Ersten Fassung von der Hand gehen. Dabei sind es nahezu sechzig sehr persönlich characterisierte Protagonisten, die zugleich bedacht werden müssen; sie müssen so genau typisiert sein, daß man sie sofort erkennt, und wenn sie nur einen Satz sagen. Das ist das Niveau des WOLPERTINGERs.Wobei wie bisweilen dort eine gesprochene Rede auch aus dem jeweiligen Kontext zugeordnet werden kann.
Jetzt sofort, ohne Frühstückspause, an VERBEEN. Die Toasts und das weiche Ei hatte ich ja bereits heut früh mit meinem Jungen.

11.23 Uhr:
S c h o n toll, was so passiert. Da ruft mich eben ein Freund an und fragt, ob ich nach einem privaten Gespräch zwischen uns die Person, über die er sich sehr zu recht geärgert hat, in Den Dschungeln „dumm und dick“ genannt hätte. Wie er denn d a r a u f komme? frage ich ihn. Das sei ihm erzählt worden.
Ich versuche, mich zu erinnern. „Nein“, sag ich dann, „über den Vorfall selbst – also diese tatsächlich dumme Problematik – habe ich ganz sicher geschrieben, aber verstellt und in anderen Zusammenhängen.“ „Gut“, sagt er, „ich glaube dir. Aber ich habe jetzt eine Menge Ärger am Hals.“ Wir beenden das Gespräch.
Es läßt mir aber keine Ruhe, und ich durchforste Die Dschungel vom Tag des erwähnten Gespräches an auf die entsprechenden Suchbegriffe, die ich hier jetzt bewußt nicht niederschreibe. Nix außer meinem Vermerk, ich wolle noch etwas zu dem Thema ausführen. Umgesetzt hab ich das dann nicht mehr, wahrscheinlich, weil der VERBEEN-Auftrag einging und ich seither ohnedies die Dschungel-Notizen erst einmal sammle. Es ist momentan nicht genug Zeit, um sie auszuführen. Wie auch immer: Der beklagte Begriff sogar selbst, also „dumm“, kommt seit dem Stichtag überhaupt nur in Verwendungen mit Pullovern vor: „dicker Pullover“ undsoweiter, was meinen Lesern sehr verständlich sein dürfte. Und einmal steht da „Dickmann“, weil ich den Namen falsch getippt, also versehentlich ein „e“ ausgelassen habe.
Da ruft der Profi an. Und gemeinsam checken wir Die Dschungel noch einmal; auch er wird nicht fündig. Nun erst bin ich beruhigt und rufe den Freund meinerseits an, um ihn in dieser Sache ruhig zu stimmen. „Aber wer t u t denn so etwas?!“ ruft er aus. „Wer hinterträgt denn so falsche Sachen?“ „Weißt du“, kann ich nur noch sagen, „das bin ich aber auch s o w a s von gewöhnt.“
Leider zog das fast eine volle Stunde von der VERBEEN-Zeit ab. Vielleicht nehme ich meinen Mittagsschlaf bereits jetzt; dann hab ich hinterher für VERBEEN länger am Stück Zeit.

13.30 Uhr:
Meine geliebte Mittagsstunde so tief geschlafen, daß ich, als ich (ohne Wecker) von allein wie auf den Punkt erwachte, überhaupt nicht wußte, wo ich war, ob hier, ob drüben. Mußte mich mit einem kleinen Bewußtwerdungsakt im Wortsinn ‚besinnen’. Dann rasieren, die Dusche, den Mittagsespresso, zwei Briefe wegen einer Veranstaltung im Literaturbüro Oldenburg, sowie einen Brief-mitsamt-Typoskriptausdruck an Wolfgang Condrus, der bei SAN MICHELE wahrscheinlich ebenfalls mitsprechen wird. Und Rowohlt schickt mir mit knapp einem Dreivierteljahr Verspätung ein Belegexemplar von >>>> Englers Apokalypse-Buch, in das ein Auszug aus THETIS hineingenommen worden ist. Pikant daran ist, daß Rowohlt die Abruckgenehmigung erstens ohne mein Wissen und zum zweitens zu einem Zeitpunkt gab, als der Verlag gar keine Rechte an dem Buch mehr hatte; sogar der Berlin Verlag hatte sie da schon nicht mehr. Es geht um eine nur kleine Lizenzgebühr, und das Buch ist sehr schön; deshalb will ich nicht murren. Aber was sagen kann man ja s c h o n mal.
Nun aber wirklich an VERBEEN.

16.30 Uhr:
Ärgerlich: wieder mal ein platter Reifen am Hinterrad; passierte, als ich meinen Jungen von der Schule zur Musikschule bringen wollte. Mußte gleich weiter zur Post wegen Condrus, ließ das Rad an der Musikschule stehen. Das nervt mich ungemein, weil jetzt vieles vier- bis fünfmal solange dauert, wie normalerweise Gänge brauchen. Ich h a s s e Langsamkeit, sie behindert mich,drückt auf mich drauf, ich brauche Bewegung, schnelle Bewegung, dann rast auch der Geist. Aber ich muß mir gleich mal selbst einen Dämpfer versetzen: Denn immerhin wurde mir, nach dem Telefonat mit Markwart vorhin, auf dem Spazierweg klar, daß ich nach Zürich muß, um das Interview mit ihm zu führen; bei ihm Zuhause, in der Uni oder im Café, einerlei. Nur am Telefon ist das unergebig; außerdem ist die Tonqualität schlecht. Besser, das Gespräch direkt mit dem DAT-Recorder aufnehmen. Meine Fragen schick ich ihm schon vorab per Email. Dann kann ich außerdem zur alten Verbeen-Villa spazieren und sowieso noch ein bißchen in den Antiquariaten stöbern; vielleicht find ich noch etwas mehr. Gut, das ist für Anfang März vorgenommen, zweidrei Tage nur, das wird reichen. Ein wenig Reisekosten seien ja drin, hat mir Filz gesagt; ich werd am Montag anrufen und darum bitten, mir einen Flug vom SWR aus zu buchen und auch direkt zu bezahlen. Ich hab hier kaum noch Geld, und sowieso wurde mir ja die Kreditkarte entzogen. Dann muß es halt s o gehen.
Jetzt bleibt kaum noch Zeit fürs VERBEEN-TS; emails müssen noch eben beantwortet werden, dann pack ich bereits alles zusammen und spaziere wieder zur Musikschule.