5.17 Uhr:
[Kinderwohnung Berlin. Küchentisch. Pott Kaffee.]
Bin schon wieder im Aufbruch, muß um 5.56 Uhr an der U-Bahn sein, dann bin ich bereits vormittags in Bamberg zurück. Bis nach ein Uhr nachts mit U. und dem Profi im Pratergarten beisammengesessen, dann durch die Nacht das Viertelstündchen heim zurück, hatte also knappe vier Stunden Schlaf. Arbeiten will ich im Zug – wenn mir die Augen nicht zufallen; aber heute früh will ich erzählen, nicht reflektieren. Ich rieche diese Szene, ich hab sie als Gefühl, die Bewegungen Empfindungen Gegend, aber sie hat sich gegen ihre Erzählung bislang noch gesperrt. Manchmal ist, um so etwas einzufangen, der halbschlafene Zustand genau richtig.
>>>> June ist zurück, sie meldete sich gestern. Und eine junge Bambergerin scheint direkt in die Villa Concordia hineinschauen zu können; sie erzählte gestern im Messenger seltsam Genaues über meine Gänge. Hat a u c h was von einer Erzählung. D i e s e Dame nun nenn ich… nein, weiß ich noch nicht.
6.34 Uhr. ICE 1513, Berlin-Bamberg:
[Bruckner, Neunte. Harnoncourt.]
Nicht zu fassen: Die Treppen hoch kam auf den Bahnsteig Indiana Jones’ Vater. Verwirrt starrte ich ihn an: Er war das Original, nicht etwa Sean Connery, der Schauspieler, der dem Original Gesicht verlieh. Hier stand dicht bei mir DAS URBILD, wie die Juristen so etwas im Prozeß um mein verbotenes Buch immer genannt haben, und es war ziemlich lebendig. Desolat und lebendig, ‚weltfremd’ hat man dazu immer gesagt, was ja ganz falsch ist, weil solche Menschen oft verborgene Anteile von Welt ans Licht bringen, die zuvor überhaupt nur sie wahrgenommen haben. Weshalb der trockne Bürger sie, wahrscheinlich aus Neid, so oft ‚versponnen’ nennt: Er muß mit der Fresse draufgepreßt werden, um zu bemerken, was dem sog. Spinner völlig selbstverständlich-geläufig ist. Wie in der Neuen Kunst muß man den Bürger zwingen, sonst tritt er achtlos, wenn nicht mutwillig drauf. (Wobei dieser ‚Zwang’ sich selbstverständlich besser macht, wenn er in allgemeinem Konsens besteht, also darin ‚dazuzugehören’. Dann hängt auch e r sich einen van Gogh in den Flur.)
Und >>>> Simmel geht mir nach. Man muß solche Sätze genau betrachten, um zu bemerken, wie heimtückisch sie sind, wie sehr auf Vorurteil und Mainstream bauend, wie sehr auf Ausgrenzung und Sicherungswut.
Gestern mit dem Jungen und Lakshmi, die wieder einmal eher kühl war abgespannt übernächtigt, auf dem 1.-Mai-Fest am Kollwitzplatz gewesen. Dort blieben wir vor einem offenen Wagen stehen, auf dessen Bühne eine Jugendband spielte: Keyboard, Schlagzeug, Sax, E-Gitarre und (Mädchen-)Stimme. Sie brachten eine Art leicht verrockter Schlagermusik; man hat sich seit vierzig Jahren ja angewöhnt, den Schlager lieber „song“ zu nennen, dann verwischt sich, was man eigentlich da hört, und es bekommt den Beigeschmack des progressiven Zeitgeistes. Jedenfalls ausgerechnet bei dieser Ekelschnulze „Let it be“… ich hab die Beatles n i e leiden können, anders als die Rolling Stones, die mir zwar auch nie gefielen, bei denen ich aber spür(t)e, welch eine Kraft dahintersteckt; bei den Beatles hingegen ist da immer nur Harmoniesucht und schunkelnde Gruppigkeit: Schnulze halt… jedenfalls macht Lakshmi den Jungen, der auf meinen Schultern sitzt, auf den vielleicht elfjährigen Schlagzeuger aufmerksam. Da beugt sich mein Sohn zu mir herab und sagt: „Papa, ich habe mich umentschieden. Ich möchte nicht mehr Geige, ich möchte Schlagzeug lernen.“ Wie ein Schlag ging das durch mich hindurch. „Wenn du das willst…“ sagte ich nur.
Aber später, nachdem ich die beiden heimgebracht hatte und zurück zur Kinderwohnung ging, fing es in mir zu rumoren an; ich wurde nachgerade depressiv-wütend. Der Instrumentenunterricht ist teuer, ich weiß eh nicht recht, wie ihn finanzieren – aber diese Aufwendung nun ausgerechnet für ein Instrument zu stemmen, das ich eher furchtbar finde, vor allem, weil es – was bei einem Kind doch so wichtig ist – zur Gehörbildung nicht taugt und auch der Ausbildung der Fingernervigkeit kaum dienlich ist, bereitet mir ein ziemliches Magensausen; mir wurde nahezu schlecht, wenn ich darüber nachdachte. Noch jetzt grollt es in mir nach – auch wenn ich weiß, daß die Entscheidung aus dem Moment entstanden war und sowieso erst einmal das Instrumentenkarrussell auf den Jungen zukommt: Ein Jahr lang erhalten da die Kinder für einen Monat verschiedene Intrumente und Unterricht dazu zum Auprobieren, was ihnen liegt. „Er—-
„—- kann ja mit einem Rhythmusinstrument beginnen.“ Klar kann man das so sehen, aber mir ist, als müßte ich meinem Jungen jetzt die Zugehörigkeit zu einer mir entsetzlichen politischen Partei finanzieren; meine Traumata tanzen ein Knochenballett. Daran jedenfalls habe ich zu kauen. Jedes andere Instrument fände ich in Odnung, Geige fand ich für diesen vitalistischen und kräftigen Jungen ja selber eher kritisch – soll er meinethalben Trompete Gitarre oder was auch immer lernen, aber ausgerechnet Schlagzeug? Na, und dann noch dieser Anruf eben. Der Tag ist jedenfalls ‚stimmungsmäßig’ gelaufen. >>>> Ich kaue und kaue.
9.12 Uhr:
[Messiaen, François d’Assise. Nagano. Im ICE hinter Jena. Blauester Himmel mit Wolkenschafen, die sich nur am Horizont leicht dunkel sammeln.]
Die Verletzung scheint ungeheuer zu sein und chronifiziert: sie verhärtet sich offenbar noch, je größer der zeitliche Abstand wird. Nicht so die meine in mir; die mag und kann verzeihen; man hat sich ja gegenseitig nichts genommen. Allerdings steh ich nicht unter Einfluß, weil ich auf Harmonie nicht angewiesen bin; bei Gruppen ist sie mir sogar verdächtig. Zwar mag ich sie schon, verzichte aber eher auf sie als auf die eigene Haltung. Deshalb ist auf mich der Einfluß von Gruppen höchst matt. Die Kehrseite solcher ‚Freiheit’, freilich, ist Asozialität: Sie wisse, sagte Alexandra vorgestern, weshalb auch eine Frau, die mich liebe, mir gegenüber zögerte:: „Du kannst einer Frau Liebe geben, Leidenschaft, Männlichkeit und sehr viel Welt, aber keine letztliche, verläßliche Geborgenheit.“ Und U. gestern nacht, freundlich-eindringlich, ein weiteres Mal: „Überlege dir gut, ob du das wirklich w i l l s t: ein beruhigtes Familienleben. Ob du das überhaupt kannst.“ Einen beschissenen Preis hat zu zahlen, wer diesen Einwand akzeptiert: einsam zu bleiben.
[Paralleles ständiges Anderes-Denken, während ich sowohl an der ersten Begegnung Skamanders mit Odysseus herumformuliere als auch bisweilen an Dschungel-Texten schreibe und zugleich in den Messiaen einzudringen versuche.]
13.18 Uhr:
[ Messiaen, François d’Assise.]
Am Bamberger Schreibtisch zurück. Post, DIE DSCHUNGEL. Jetzt etwas essen. Dann Mittagsschlaf.
NACHTRAG:
Odysseus’ eigentlichen Namen im Roma-Sinti-Chat erfragt. Leider ging (durch einen Vertipper) der Chat-Text verloren. Ich hätte das kurze Gespräch gern eingestellt. Nun lege ich den versprochenen Link eben >>>> h i e r.
Jour fixe in der Concordia („Irgend jemand wirft Glasflaschen in den Restmüllbehälter. Bitte bringen Sie Glas doch in die Recycling-Container.“) und Damenbesuch danach. Schöner Titel, übrigens: „Bamberger SM“. Die Hasenkrug/Hamburger Szene ist bis hierher vernetzt; in Wirtschafszusammenhängen würde gesagt: Es sind insgesamt nur wenige player und nahezu alle keinen einander flächendeckend durch Deutschland. Imgrunde müßte die Deutsche Bahn sie sponsorn, so oft reisen die Leute herum.
Verzeihen Sie lieber ANH, ich muss mich nochmal einmischen. Ich weiß immer nicht so recht, ob ich jetzt mit diesem 51 jährigen mitleiden soll – Grund genug habe ich, derjenige an den ich mich innerlich hänge, gehört zu einer Anderen, und ich liebe dennoch weiter, so wie Sie – oder handelt es sich hier um jämmerliches Selbstmitleid??? Und geht es nicht vielen so wie dir und mir? Einsamkeit ist eine grauenhaft-gute Erfahrung, der mögliche Umgang damit stärkt, macht trozuig, setzt Kräfte frei und bietet auch sonst noch ne Menge Spielraum. Die Freunde wissen es wohl: Sie wollen das nicht wirklich, können aber von dem unwirklichen Idealbild nicht lassen. Bleiben oder werden Sie stark!!! und großzügig sich selbst und ihrer Familie gegenüber (denn die gibt es ja, so oder so). Sie haben, Sie „sind“ (auf das „sein“ kommt es schließlich an) ein wunderbares Leben.
B.B.
Liebe B.B. – – weshalb liegt, wenn jemand über ein seelisches Leiden schreibt, vorwiegend dabei in Vermissungs- und Sehnsuchts- Zusammenhängen, immer gleich der Vorwurf des Selbstmitleides so nah, weshalb geht er den Leuten so geradezu gleitend aus der Hand? „Mitleid“ bedeutet, man empfinde das Leid eines anderen – demgemäß kann „Selbstmitleid“ nur bedeuten, daß man das eigene Leid empfindet – und der Vorwurf, das sei jämmerlich, ist dann logischerweise der Vorwurf, daß man leidet. Dahinter steht eine Bewegung, die es fordert, n i c h t zu leiden, also das eigene Leid zu verdinglichen und in den Schrank zu stellen. Worum es aber doch geht, ist, aus dem Leiden (und aus der Lust!) etwas zu schaffen; damit das nicht zu Verschiebungen Verdrängungen Fehlleistungren führt, sondern tatsächlich gestaltend produktiv wird, muß man es sehen, anerkennen und dann damit umgehen. Es ist und bleibt aber d o c h. Und es ist rein absurd (wenn auch recht bürgerlicher usus), das heimlich zu tun und es unter der Decke zu halten; es ist, mit einem treffenden Wort, heuchlerisch.
Daß ich, wie Sie es wollen, mit meinem Leid ‚umgehe‘, ist selbstverständlich; ebenso selbstverständlich geht es vielen Menschen wie mir oder annähernd wie mir oder vergleichbar; gerade das aber ist ein Grund zur Darstellung, zum, wie André Heller einmal sagte, sich-Zugeben, und zwar öffentlich und in aller Radikalität. Die Großzügigkeit ist dabei selbstverständlich; was ungewöhnlich in Den Dschungeln ist, ist die konsequente Darstellung auch vorübergehender, wenn auch tiefer Gefühle. Einen halben Tag später ist die Stimmung längst eine andere, aber die erste Stimmung w a r und wird deshalb nicht weniger oder weniger bedeutsam, da sie nachwirkt. Solche Nachwirkungen gehören direkt in den Prozeß der künstlerischen Produktivität; verschweigt man sie aber, vergißt man sie auch leicht für sich selbst, und wer dann noch Aussagen über kreative Dynamiken treffen will, verfälscht.
Daß ich bei allem inneren Chaos, aller Hin- und Hergerissenheit, auch bei meiner willentlichen Verlorenheit in den Sexualtrieb (ich w i l l ihn nicht sublimieren, will E r d e nicht sublimieren) ein wunderbares Leben habe, gehört genau da hinein. Wenn Sie also nicht recht wissen, ob Sie mit ‚dem 51jährigen‘ mitleiden sollen, dann wissen Sie auch nicht, ob Sie mit-glücklich sein sollen, Mitlust empfinden sollen. Oder können.
Vergessen Sie dabei auch nicht: Ich bin zugleich Experimentator und Experimentat in einem sagen wir literarischen Labor und betreibe Feldforschungen. Deren Versuchsanordnungen verantworte ich nur sehr bedingt. Um so wichtiger ist es – wenn man sie denn produktiv-bewußt nutzen will -, pedantisch Buch zu führen.
[Das unwirkliche Idealbild i s t übrigens nicht unwirklich, und wäre es das, dann m a c h t e ich es wirklich: Ich schüfe es. Oder besser: Es schaffte sich durch mich. Das ist kein Größenwahn, sondern die näherungsweise Beschreibung eines Prozesses, für den ich nicht mehr bin als ein Katalysator. Gäbe es m i c h nicht, er suchte sich jemanden anderes. Es gibt mich nun aber halt. Und ich lasse nicht nach.]