6.06 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Tschaikowski, Zweites Klavierkonzert.]
Guten Morgen, Leser. Um kurz vor sechs kam ich hoch; neben mir schlief mein schöner Sohn und schläft nun noch. Aus einer dichten Wolkenmasse, die sich in Bällchen auflöst, je weiter man den Kopf in den Nacken legt, dringt weiß die Sonne hervor. Ich hab Kopfhörer auf, um den Jungen nicht zu wecken, – wiewohl ich nachher o h n e sie hören werde – etwas anderes freilich, nicht den Tschaikowski, sondern die Beethoven-Quartette vielleicht -, damit er darin, wenn es seine Zeit ist, aufwachen kann. Mir selbst, in meiner Kindheit, war Musik immer Fluchtraum, war Höhle – und ich möchte, daß, wenn sie erklingt, es ein ruhiges Glück in ihm wird, daß er sie mit Geborgenheit zusammenfühlt. Man kann gar nicht tief genug fassen, um an die Kraft solcher Untergründe zu langen: die Lebenskraft, die sie verleihen. Also Schal über den Schädel, die Schultern bedeckt, denn es ist kühl heute früh bei der offenen Terrassentür – und eben seh ich, daß die Wolken unvermittelt wie eine zehnfingrige Hand über meinen Kopf hinweggreifen, den Handballen gibt die plötzlich verdeckte Sonne ab: dieselbe perspektivische Verzerrung, wie wenn man einem Zugestrecktes von nahe fotografiert. Das Bild nehme ich gleich in ARGO hinein. (Hab einen leisen Impuls, ein weiteres Gedicht für F. zu schreiben, aber zugleich das unbedingte Gefühl, es nicht zu dürfen, weil es ein kleiner Verrat an dem Jungen wäre; h e u t e, nicht prinzipiell. Über das Prinzipielle bin ich mir momentan sehr unklar. Und möchte auch, während seiner Wieder-Anwesenheit nach diesen langen drei Wochen, nicht darüber nachdenken.)9.34 Uhr:
[Tschaikowski, Erstes Klavierkonzert.]
Das war d a s Konzert meiner Kindheit; es gab ein Jahr, in dem ich nicht einschlafen konnte, ohne daß es aus den Lautsprechern klang.
Die erste eigene Erdbeere.
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Jetzt noch zwei Stunden etwas arbeiten, dann beginnt die Kinderzeit.
10.07 Uhr:
… und nu’ pest das glückliche Kerlchen mit seiner Wasserpistole herum und findet überall Freunde… bei den anderen Stipendiaten, bei deren Gästen, auf der Concordiastraße usw. – Es ist einfach wunderschön, ihm sagen zu können: „Adrian, du bist hier völlig frei… kannst rennen, wohin immer du willst…“ Und er tut’s, er tut’s… solch ein angstfreies Kind!
Aus dem Notizbuch, Hainbad, Bamberg.
Welche Freude es mir macht, meinen Jungen zu beobachten, wie schnell er Freunde findet; ganz anders als in seinem Alter ich. Auffällig freilich, daß sie fast immer älter sind als er ist – seine kräftige Natur gibt ihm das, sein Durchsetzungswille. Wobei er diese starke soziale Komponente gewiß von seiner Mama hat und ganz gewiß nicht von mir.
Der Tag war ideal für Sohn und Vater: Dieser konnte arbeiten, jener tollte im Schloß und Garten herum, danach gab es ein halbstündiges, sehr schönes Orgelkonzert im Dom, daraufhin ein Eis, danach – und nach einem wirklich kleinen Einkauf – ging es schwimmen. Wo wir jetzt sind. Sogar den Fluß mit seiner kräftigen Strömung sind er und ich zweimal und einmal mit seinem neuen Freund fast einhundert Meter längs an dem Bad entlanggeschwommen. Wir werden uns nachher gut mit Olivenöl einreiben müssen nach diesem Sonnentag, für den ich nicht an Lichtschutzcreme gedacht habe.
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Nun schläft er, hat noch ein wenig am Computer gespielt nach dem späten Abendessen. Derweil ich abwusch und noch etwas in dem Ellis las. Wie der Apfel vorm Stamm saß er da:
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Nicht gewagt übrigens, bei ihr nachzulesen; keine Lust auf Schmerz. Dennoch oder gerade deshalb bange. Zudem der Schmerz dann von anderer Seite an mich herantrat, indem mein Junge von dem Freund seiner Mama erzählte, jemand Neues offenbar, wovon ich nichts wußte und eigentlich nicht einmal ahnte. Wobei, geschrieben hab ich von sowem ja schon, aus purem Instinkt allerdings. Und wieder: >>>> Frauen lieben praktisch. Nein, praktisch bin ich nicht und will auch keine praktische Frau. So bleibt denn die Melancholie. Und, selbstverständlich, mein Sohn. Komisch eigentlich, daß bezüglich meiner „Praktischkeit“ für i h n weder bei anderen noch bei mir ein Zweifel besteht.
23.13 Uhr:
Jetzt hab ich d o c h nachgelesen (wenn ich vor etwas Angst habe, dann muß ich ja immer den Kopf runternehmen und durch)… aber es stand nichts Neues da. Eigenartige Erleichterung. Denn eigentlich machte es keinen Unterschied. Der Profi rügte das schon mehrfach: „Du glaubst immer, wenn jemand etwas so und so schreibt, dann sei es auch so. Und wenn er es nicht schreibt, glaubst du nicht dran.“ – Das stimmt so sicher nicht ganz, aber es ist etwas dran.