5.39 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung, Küchentisch.]
Um fünf hoch. Geradezu bizarrer Traum in seiner landvermessenden Pedanterie. Um kurz nach drei wachte ich davon auf, hätte ihn gleich notieren sollen, schlief aber lieber weiter, um nicht nachher den Wecker zu überhören. Vielleicht notier ich ihn, soweit er sich rekonstruieren läßt, gleich im Zug. Bin unter Druck, muß in einer halben Stunde aus dem Haus, und es ist noch viel zusammenzupacken an Schriftkram. Deshalb dies nur eben zum Morgenrapport. (Wem rapportier ich? mir? der gemanistischen/literaturwissenschaftlichen Nachwelt? Offenbar.) Und weil mich gerade Ideen Ideen Ideen bestürmen. Die Morgenstunden sind für die Arbeit immer, wirklich immer, die besten.
6.63 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg. Giacinto Scelsi, Quattro pezzi per orchestra.]Geheimnisvolle Musik, die ich mir da zur Einstimmung beidseitig in den Kopf strömen lasse. Einiges ist zu erzählen vor Arbeitsbeginn, auch, bevor ich den Traum von heute Nacht noch zu erwischen versuche, um ihn in ein >>>> Traumprotokoll zu überführen, das nicht im rein-Persönlichen steckenbleibt. Zum Beispiel habe ich wieder zu meinem Reisejackett gegriffen.Ich trug es, seit ich dreißig bin, immer wieder, wenn ich auf Tour ging, nahezu ausschließlich. Seit meiner Trennung aber nicht mehr; viereinhalb Jahre hing das Kleidungsstück ungetragen bei Anzügen und Jacketts. Gestern überkam es mich, und ich griff danach, zog es sogar an. Ich habe mir dieses Jackett vor bald zwei Jahrzehnten gekauft, second hand; es ist kein wertvolles, schon gar nicht schönes Tuch, aber widerstandsfähig, und es erwies sich als ausgesprochen praktisch, da es gleichermaßen vor Kälte wie vor Hitze schützen kann. Nicht selten habe ich mich, auf Deck übernachtend, zum Schlafen darin eingeschmiegt. Ob mein Unbewußtes das, was nun ansteht, als eine Art innere Reise begreift, vielleicht, fällt mir gerade ein, als eine Art Auswanderung, endgültiger Auswanderung, die es bedarf, daß man sich einiger gewohnter Rituale entsinnt, um ein Stückchen alter Heimat mit hinüberzunehmen? Ebenso nahm ich heute einen der Borsalinos von der Wand, die ich ebenfalls seit nahezu viereinhalb Jahren nicht mehr trage (wie die Krawatten, ohne die man mich früher nie sah). Ich setzte ihn auf und beschaute mich im Spiegel, momentlang unter Impulsbeschuß, ihn ebenfalls wieder zu tragen. Doch die Tücher sind stärker, die ich entdeckt habe in den letzten zwei Jahren (manchmal, wenn es kühl ist, trage ich bis zu dreien von ihnen, morgens lege ich sie mir über Schädel und Schultern; beim Gehen schmeicheln sie an den Armen, und sie sind, anders als Hüte, nicht starr; hinzu kommt: ich kann sie immer tragen, ein Hut hingegen, morgens am Schreibtisch, wär bizarr; Schals und Tücher lassen sich außerdem zusammengerollt leicht mitnehmen; und anderes mehr). Aber der Impuls hielt nicht lange an; ich wäre mir verkleidet vorgekommen. Wie seltsam. Daß ich die Borsalinos nicht mehr trage, hat freilich auch einen eitlen Grund: alle literarische Welt läßt sich seit einiger Zeit mit sowas sehen, sogar Burkhard Spinnen. Und Friedrich Christian Delius gibt seinem Protestantengesicht damit den Flair von Welt. Da mochte ich einfach nicht mehr. Es war nicht nur Ausdruck einer inneren Änderung, eines, sagen wir, Willens zu innerer Änderung. – Ähm, was ist d a s jetzt? Da hat sich Nusrath Fateh Alis Oud zwischen Scelsis erstes und zweites Orchesterstück geschmuggelt. Heiter, das l a ß ich jetzt (zumal, auf dem ICE-Tischchen, die WDR-Produktion „Der Koran“ – von 2002! – vor mir liegt) – und im selben Moment klart’s auf, und der ICE saust ins Sonnenlicht. (Gehen so Bekehrungen?) – Dem Reisejackett hab ich mich aber gestellt, das nahm ich auch heute morgen, und es hängt jetzt neben mir. Der Borsa hingegen hängt wieder an der Wand des KinderwohnungsFlurs. Ich hätt ihn auch nur, diesen Hut, aus Daffke, denk ich mir, getragen, so, wie ein Kind sich verkleidet.Schöne Musik, die Oud und die Tablas, der arabische Gesang und dazu gleich wieder Scelsis mystische Akkordströme. Paßt. So soll meine Prosa klingen. Und so klingt sie ja bisweilen. Wenn sie gelang.
11.36 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Nusrath Fateh Ali Khan, Sanson Ki Mala.]Zurück. Tatsächlich im Zug die Rohfassung der Siebten Bamberger Elegie abgeschlossen, wobei mir die letzte Zeile auf dem Weg von Bahnhof in die Concordia einfiel. – Kleiner Schock, als ich meinen hiesigen Briefkasten leerte: Irgend ein zuzustellendes Schriftstück wurde niedergelegt; wahrscheinlich ein Zahlungsbefehl. Allerdings kann ich hin- und herdenken, wie ich will (ich will aber gar nicht), es fällt mir nicht ein, worum es sich handeln könnte. Jedenfalls nix Angenehmes. Egal.
18 Uhr:
[Der Koran, WDR-Produktion, Regie: Klaus-Dieter Pittrich.]
Während ich aus den Kontoauszügen übertrage (Steuermüll), höre ich die ausgesprochen schöne und klug kommentierte Koran-Produktion des WDRs und bin jedesmal gefesselt, wenn Mohammed Ayoub Ben Mohammed Yousef weniger rezitiert als sängerisch deklamiert. Dein Herr ist der edelmütigste, der durch das Schreibrohr (!!!) den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
Sura 96, Der EmbryoLernen, indem ich schreibe.