Die DDR liegt zwischen Hanau und Frankfurt am Main.

Ich war unterwegs, auf einer langen Reise, kam von ganz anderswo. Woher jedoch, das weiß ich nicht. Immer wieder sah ich meinen Fahrschein an, irritiert über die Höhe seines Preises. Die Schaffnerin – Verzeihung: ‚Zugbegleiterin’ – kam vorbei, ich stoppte sie. „Sagen Sie mir, wieso ist das denn so teuer? Ich verstehe das nicht, es sind kaum dreißig Kilometer.“ „Wie bitte?!“ rief sie, nahezu wütend geworden, aus und maß mich mit einem sehr abschätzigen Blick. „Das ist viel zu teuer“, insistierte ich. Die Zugbeschaffnerin, eine halb verhärmte, halb boshafte Frau um die fünfzig, sah ärgerlich um sich; andere Reisende waren aufmerksam geworden, es gab Getuschel im Großraumwaggon. Vielleicht, um dem sich hebenden insgesamt-Ärger weitere Nahrungszufuhr abzuschneiden, herrschte die Frau mich an: „KommSe mal mit!“
Ich stand auf und folgte ihr. Warf noch anderen Reisenden einen lächelnden Blick zu. Die nickten, als wollten sie sagen: Geh nur, wir passen auf dein Zeug schon auf. Ich hatte entferntes Vertrauen (wie wenn ohnehin alles egal sei), ließ meine Sachen am Platz, Laptop, sogar das Portomonnaie, den Rucksack. Hinter der Frau herschreitend, durchmaß ich fast den gesamten Zug. Dann öffnete sie eine Seitentür, und ich trat in einen Raum, der für die Eisenbahn viel zu geräumig war. Tatsächlich war es eine große Kajüte, Kapitänskajüte wohl; man sah einen Schreibtisch und davor einen anderen Tisch, den ausgerollte, mit Bleistücken beschwerte Karten bedeckten: Land-, nicht Seekarten. Darauf Zirkel, Bleistifte, Lineale, ein Kompaß. Niemand sonst war in dem getäfelten Raum (zu Jules Vernes Zeiten, fällt mir jetzt ein, haben Luxuswaggons so ausgesehen).
„So“, sagte die Frau, und ihr Ton war durchaus nicht mehr grantig, sondern bloß ernst und wissend; sie sprach dieses So, wie man zu einem Kind spricht, zu dem man sich erklärend hinabbeugt. Tatsächlich beugte sie sich über die oberste Karte, auf der ich Frankfurt am Main eingezeichnet sah, nicht mittig, sondern am oberen Rand in der rechten Ecke. Die Frau nahm den Zirkel – ein sehr großes Instrument aus Metall mit verschiedenen Gravuren und Klemmen, sowie mehreren Feststellschrauben. Mit diesem Instrument ging die Frau über die Karte, zunehmend versonnen, als vergäße sie, von ihrer Tätigkeit aufgesogen, meine Anwesenheit. „Hier“, machte sie, „hier…“. Der Zirkel schritt in wankenden Halbbögen fast durch die gesamte Karte. „Und da ist Hanau. Was wollen Sie also?“ Jetzt sah sie hoch und fixierte mich, ihre beiden Hände auf die Karte gestützt, den Rücken gebogen wie einen Viertelkreis und den Kopf ganz, fast schmerzhaft ganz, in den Nacken legend. „Diese Strecke entspricht der zweidrittel DDR! Und da nennen Sie den Fahrpreis zu teuer?“
Ich weiß, daß ich mich bei ihr entschuldigte, jedenfalls hatte ich das Bedürfnis; aber ich bekam davon nichts mehr mit. Als ich ins Frühgrau der Berliner Nacht erwachte.

4 thoughts on “Die DDR liegt zwischen Hanau und Frankfurt am Main.

  1. Der Zirkel ist ein Hammer… Trauen sie bloß den Karten nicht. Auch nicht im Traum.Sicher wurde sie hier gedruckt. ‚VEB Hermann Haack Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha‘. Bis 1990 einziger Verlag der DDR für schulkartographische Publikationen; Markenname ‚Haack Gotha‘.

  2. der traum laesst sich anders deuten: sie werden von ihrer frau vermessen , sie nimmt mass an ihnen… ihre bewegungsfreiheit wird eingegrenzt… eingezaeunt… willkommen zuhause!! schluss mit lustig!! oder doch nicht??

    1. An sich, andante, wäre das eine s p a n n e n d e Deutung. Es steht ihr aber wenigstens viererlei im Weg:
      1) Die Sprache des Unbewußten ist nie zynisch oder spöttisch („schluß mit lustig!), sondern drückt unbewertet in verstellten Bildern Hoffnungen und Ängste aus. Die Verstellung ist kein hämischer, sondern bearbeitender Akt. „Schluß mit lustig!“ ist hingegen die Wertung eines/einer, der/die sich über die Ängste schadenfroh f r e u t. Oder die Ängste gegen den/die wenden will, der/die sie hat.
      2) „Schluß mit lustig!“ übersieht die Sehnsucht, die sich erfüllt, und tut so, als wäre es vorher lustig g e w e s e n. Das war’s aber nun g a r nicht. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Die neue Situation ist von vielen Sorgen umstellt, aber sie ist auch Erfüllung.
      3) Das vom Traum verarbeitete Characterbild der Schaffnerin entspricht weder nach Alter noch nach Aussehen meiner Frau, die geradezu der Antipart einer solch verhärmten und wohl sehr bitteren Person ist, sondern weich, innig, besorgt und darüberhinaus von enormer Schönheit. Wenn überhaupt für jemanden aus meinem persönlichen Umfeld, stünde die Schaffnerin für meine Mutter. Das würde eher passen. S o gelesen, bekommt Ihre Deutung Kraft.
      4) Meine Bewegungsfreiheit grenze ich selbst ein oder l a s s e ich eingenzen: aus bewußter Entscheidung (die selbstverständlich nach Gründen erfolgt, die mich sozusagen schicksalhaft bestimmen; es wären sonst keine, oder keine sowohl notwendigen wie hinreichenden. Ganz sicher wirkt hier nicht Autonomie, die ich bekanntlich für einen pragmatisierten Mythos halte.

      Nun ist die Sprache des Unbewußten wie die der Kunst eine des Ungefähren. Insofern mag Ihre, andantes, Deutung eine F a c e t t e treffen dessen, was zur Zeit so nachdrücklich in mir umgeht und tatsächlich mein ganzes bisheriges Leben ziemlich resolut auf die Seite legen könnte. Aber genau das habe ich ja immer gemocht und gesucht: nicht in Gleisen laufen, nicht und nie sich zurücklehnen, sondern jeden Moment gespitzt darauf sein, daß Welt sich umstülpt.

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