5.06 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung, Küchentisch.]
Viel geweint gestern, auch (er)lösend, doch auch wieder nicht. Schlimm für mich, nicht drüber schreiben zu dürfen, weil meine eigene Kunst, aus ausweglos Scheinendem etwas zu schaffen und es dadurch erträglich zu machen (indem nämlich Schönheit geschaffen wird) – und sich selbst fähig, d o c h einen Ausweg zu finden – mir hier abgeschnitten ist. Jedenfalls derzeit. Das erlösende Moment, gleichzeitig, wiederum, rührt daher, daß Wille da ist, daß Wissen da ist. Und eben nicht nur bei mir. Doch die Frage für mich ist: kann ich leben, indem ich meinen tiefsten und wahrscheinlich vitalsten Lebensinstinkt verneine, für eine voraussichtlich lange Zeit. Oder kann ich es nicht. Zig Fragen schließen sich an. Existenzfragen, die meine Haltung insgesamt gegenüber esoterischen Lebensauffassungen berühren, die meine Ich-Definition berühren und die deshalb auch und gerade meine literarische Ästhetik berühren.
Vielleicht aber finde ich eine Form, die mir eine karthartische Dichtung erlaubt, ohne daß ich ihren konkreten Grund verlauten lasse. Vielleicht in einer hermetischen Weise verschlüsseln, wie Celan – er selbstverständlich aus anderem Grund – verschlüsselt hat. Vielleicht soll dies nun für mein Handwerk eine weitere Lehrzeit sein. Ich weiß dies alles nicht, hab dicke Augen und muß schnell etwas Ordnung schaffen, dann zusammenpacken und um 6.15 Uhr los, damit ich den 6.42er ICE erwische. Bis eins saß ich nachts noch mit dem Profi zusammen in der Kneipe. Daß es ihn für mich gibt, ist in sehr vielen Hinsichten ein so innerer wie äußerer Segen. Er klärt einem die Sicht und weiß Dinge auf eine Weise zu relativieren, weiß Schocks so zu mildern, daß man aus der Handlungsunfähigkeit herauskommt und sich gegenüber Kämpfen, die drohen, genügend abkühlt, um sie bestehen zu können.
Vielleicht ist die Arbeit am Pettersson jetzt sogar lebensgeschichtlich für mich heilend; für ihn stellten sich solche Fragen wie die meinen nicht; polyarthritisch seit etwa seinem vierzigsten Lebensjahr zunehmend verkrüppelnd, saß oder lag der geschlagene Mann nur da und schrieb schrieb schrieb diese Musik. Es war rein körperlich in ihm überhaupt kein Raum für sexuelles Rasen; man kann nahezu hören wie es statt dessen – als Versagtes – in die Kompositionen hineintobt und um Luft brüllt. Das irgendwie fassen.
Wenn ich das so lese und mir vorstelle: das schreibt ein 51jähriger Mann – dann wird mir alles, was über Persönlichkeitsbildung gesagt ist und über innere Sicherheit, nur noch fragwürdiger. Man ist hilflos wie ein Junge. Daran hat sich letztlich überhaupt nichts geändert. Jedenfalls dann nicht, wenn man zuläßt und nicht wegdrängt.
6.40 Uhr:
[ICE 1513 Berlin-Bamberg.]
Es hat bereits etwas Heimatliches, diesen Platz einzunehmen, immer wieder, morgens, im Wagen 37, Raucherabteil, Sitzgruppe mit Tisch, Plätze 111-114 (ich sitz, aus Aberglaube?, immer auf der 111; opus 111 fällt mir plötzlich ein, Beethovens letzte Klaviersonate; aber hab mich bis heute immer rein automatisch hierhergesetzt, der Zusammenhang wird mir erst jetzt offenbar). Und stell mit Erschrecken eben fest, daß ich das Mäppchen mit den gesamten Pettersson-Sinfonien in der Kinderwohnung vergessen hab; aber, realisier ich dann (soeben fahren wir ab): ich hab ja alle seine Sinfonien auf der portablen Festplatte sicherheitshalber zu mp3’s konvertiert.
Foto gemacht.Dieser nennen Sie’s Wahn, meine Schreibtische und sonstigen Arbeitsplätze zu dokumentieren, sei’s daheim, sei’s unterwegs in Hotels und Zügen, begleitet mich nun seit fast zwanzig Jahren… nein, länger; bereits mit siebzehn machte ich immer wieder (und entwickelte sie damals in Schwarzweiß selbst) Fotografien meiner Schreibtische; auch d a s ist wohl eine Form der Selbstvergewisserung, der Objektivierung, daß und was man sei – wie nahezu alle meine Dichtungen a u c h immer einen Aspekt von Befragung und Zweifel haben, die sich dadurch mildern, daß etwas anderes als man selbst aus einem selbst entstanden ist, ohne dieses aber w ä r e man gar nicht. Zunehmend hab ich den Eindruck, daß zumindest Ausdruckskunst – und das, im Gegensatz etwa zu informellen und konkreten Formen, i s t die meine wohl – an ihrer Basis mit Selbstschwäche zu tun hat, mit irgendwie dem Bewußtsein, daß man in Wirklichkeit gar nicht sei und sich deshalb ständig selbst schaffen müsse, erschaffen müsse. Das funktioniert gut, während man an etwas arbeitet; ist das Stück aber fertig und hinausgeworfen in den Alltag, dann wird’s unversehens eigenständig und etwas anderes, so daß man von neuem beginnen, w i e d e r-Anderes beginnen muß. Und so fort. „Du kannst nie mal ruhig dasitzen und nur dasein“, sagte mir die, die ich liebe, bereits vor Jahren. „Immer bist du mit irgendwas auf dem Sprung, immer gejagt, immer energetisch, niemals einfach nur Du, sondern ständig getrieben – ob im Urlaub am Strand, ob durch Städte spazierend. Imgrunde setzt du dich niemals hin.“
Zigarillo entzündet, Kopfhörerchen in den Ohren. Dies jetzt einstellen, dann die Pettersson-Lektüren fortsetzen. Ich merke, wie ich dauernd schon mit Ideen für den Beginn des Hörstücks umgeh, wie sich das schreiben will. Ich würd so gerne schon eintauchen. Sind wir wirklich normal im schöpferischen Akt? Nein, wir müssen erfaßt sein vom heiligen W a h n des Schaffens, von der Flucht aus dem kalten Bewußtsein; es ist die Ekstase, die den Komponisten befreien kann. Allan PetterssonUnd den Dichter. Das ist es, was ihn vom Schriftsteller, der funktionalen Wesens ist, unterscheidet.
7.42 Uhr:
… und während sich das GPRS-Programm von D1 immer und immer weiter vergeblich abmüht, das Bild meines Zug-Arbeitsplatzes hochzuladen, höre ich plötzlich, wie diese Zweite Petterssons – und wie nachdrücklich! – an Mahlers nachgelassene Zehnte erinnert, und zwar an das von Cooke komplettierte Fragment des dortigen Schlußsatzes: ich hab sogar den Eindruck eines Zitates – unbedingt überprüfen!).
8.08 Uhr:
[Halt Leipzig.]
Hier hat’s jetzt mit dem Foto geklappt – über den T-mobile-Hotspot.
10.30 Uhr:
[ICE vor Lichtenfels. Pettersson, Sinfonie Nr. 6..]
Während ich mit rasenden Fingern tippe, hochkonzentriert zugleich auf die Musik wie die angestrichenen, in die Notate-Datei zu übertragenden Stellen, kam mir eben der Einfall, mich mich einfach, wenn ich in solch einen Zustand geraten will, in den nächstbesten Zug zu setzen und das zu einer Haltung in der Arbeit zu machen. Dieser transitorische Zustand des Nirgendwo-Seins fokussiert einen geradezu auf das, was zu tun ist, und man denkt dann zum Hören und zum Tippen obendrein in einer ungeheuren Geschwindigkeit, als übertrügen sich die kaum bewußt wahrgenommenen, ziehenden Bilder von jenseits der Scheiben direkt aufs Ganglion und gäben ihm die Spur. 12.24 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]Vor knapp einer Stunde angekommen, aufgebaut. Wireless-Probleme. Mußte mit dem Fritz!WLan-Stecker überbrücken. Keine Zeit und Lust, nach dem Intel-Wireless-Fehler zu suchen (offenbar hab ich das Ding versehentlich ausgeschaltet und weiß nun nicht, wie und wo es wieder zu aktivieren ist; vielleicht kann ja unter meinen Leserinnen und Lesern jemand helfen).
Müde, Mittagsschlaf. Im Kopf einen Brief an die Geliebte.
22.56 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Müde. Möchte Ringe tauschen. Keine Lust auf weiteres Exzerpieren. Mit Zschorsch und dazugekommenen weiteren Stipendiaten nach halb neun im Bürgerbräu gesessen, etwas Bier getrunken, zwei Schnäpse dazu; jetzt einen letzten Talisker. Es soll nicht zu spät werden, damit ich morgen früh herauskomme. Eigentlich müßte ich für den Pettersson bereits Tage zählen. Noch steht keine Zeile Text, noch ist alles Idee, noch bleibe ich streng an dem, was ich lese (sowie ich alles übertragen haben werde, werd ich die Exzerpte hier einstellen).
Zschorsch weiß von seinen Gedichten sogar noch auswendig, was er vor dreißig Jahren schrieb. Ich bin immer wieder erstaunt, behalte ja selbst kaum etwas je im Kopf. Es kommt immer so viel Neues hinzu. Gleichzeitig vermisse ich’s, nicht auch eine Textheimat zu haben wie offenbar Zschorsch. Was mir erinnerlich ist und bleibt? Das Endstück aus Goethes Harzreise im Winter (ungemein tröstend, dieses: „Das Gras steht wieder auf.“), der Anfang von Rilkes Siebenter Duineser Elegie
Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer
schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war,
schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer, zu Erdenklichem
völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne.“
liebet einander mehr als euer Leben
und wisset: nicht um eures Lebens willen
ist euch die Saat des Lebens anvertraut,
sondern allein um eurer Liebe willen!“)
danke dass ich das heute noch lesen durfte- meine Tochter ist heute 17 geworden (bin ich zu privat für dieses Tagebuch, das nicht meines?)